Schwer behindert / leicht bekloppt. Bernd Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783907301081
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ein angemessener Transport zur Schule und wieder nach Hause fast unmöglich geworden. Sein Zustand hatte sich sehr deutlich verschlechtert. Möglicherweise hatte er auf die Schulsituation mit Stress reagiert. Stress tat ihm nicht gut. Vielleicht hatte es auch einen Gewöhnungseffekt bei den Medikamenten gegeben. Vielleicht kam aber auch eines zum anderen. Unabhängig von den Medikamenten, unabhängig von stressigen Situationen, sogar wenn eigentlich alles ruhig war, keine Veränderungen stattfanden, gab es immer wieder diese Schübe bei ihm. Selbst wenn es ihm gut ging, sich dann aber eine Kleinigkeit veränderte, reagierte er oft mit sofortiger Panik. Das hat ihn selbst am meisten verzweifeln lassen.

      Wegen seiner gravierenden Beschwerden nahm ihn die Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie im Februar 1990 im Kinderzentrum Maulbronn (KIZE) stationär auf. Dort sollten weitere medikamentöse, krankengymnastische und eventuell psychotherapeutische Behandlungsansätze entwickelt werden.

      Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme lebte er noch bei seiner Mutter, der man Anfang 1983, nach der Scheidung von Christians Vater, das Sorgerecht zugesprochen hatte. Bei seinem Aufnahmegespräch sagte er, dass er inzwischen lieber bei seinem Vater leben wolle, zu dem eine sehr enge Bindung bestand. Der Vater hatte bereits eine Sorgerechtsänderung beantragt, der auch das Familiengericht Karlsruhe zustimmte.

      Bei seiner Aufnahme im KIZE war Christian 14½ Jahre alt. Bei einer Körpergröße von inzwischen 150 cm wog er knapp 30 kg. Er war sehr schmächtig. Seine Bewusstseinslage wurde als „klar“ definiert, er sei allseits orientiert, Aufmerksamkeit und Konzentration seien jedoch reduziert. Man bescheinigte ihm eine durchschnittliche Intelligenz. Seine Stimmungslage schätzte man subdepressiv bis depressiv ein.

      Nach einem Jahr in Maulbronn zog der leitende Arzt des KIZE folgendes Fazit: (…) Der anfangs angesichts seiner körperlichen Schwierigkeiten sehr depressive Junge hat inzwischen wieder sehr viel mehr Zuversicht hinsichtlich seiner persönlichen Weiterentwicklung gewinnen können, er hat sich im Bereich der Selbstversorgung durchaus verbessern können, im motorischen Bereich wurden z. T. beträchtliche Fortschritte erzielt. (…)

       (…) Christian erhält in der Schule für Kranke wöchentlich etwa 12 Std. Unterricht, überwiegend in Form von Kleingruppen- oder Einzelarbeit. In den ersten Monaten war wegen häufiger Schmerzen und erheblicher Bewegungsunruhe ein sinnvoller Unterricht kaum möglich, sodaß der Schwerpunkt in einer umfassenden Standortbestimmung seiner Leistungen lag. Erst ab Mitte ’90 konnte Christian mit deutlicher Verminderung der Bewegungsunruhe größere Ausdauer und höhere Belastung entwickeln und im Unterricht mehr gefordert werden. (…) intellektuell könnte er mehr zu Stande bringen, wenn nicht seine motorischen Schwierigkeiten deutliche Grenzen setzen würden. Wir erwarten jedoch in den nächsten Wochen mit einer sicheren Handhabung seines Bauchliegerwagens auch hier noch deutliche Verbesserung, sodaß wir uns eine Fortführung der Betreuung in Ihrer Einrichtung (gemeint ist das Rehabilitationszentrum in Neckargemünd) ab Sommer d. J. gut vorstellen können. (…)

      Christians erste fahrbare Liege bekam er in Maulbronn. Es war eine Zwitterlösung. Sie bestand aus einem normalen Rollstuhl als Unterbau. Darauf hatte man ein gepolstertes Brett montiert. Seitlich waren Absturzsicherungen mit Öffnungen für die Arme befestigt worden. Ebenfalls gepolstert. Vorne konnte er den Kopf auflegen. Ein Bauchlieger-Wagen. Der Rollstuhl unter seinem Liegebrett war ein Standardrollstuhl, wie er als Transport- oder Schieberollstuhl in Kliniken und Behinderteneinrichtungen oder als Hilfsmittel bei kurzzeitig eingeschränkter Mobilität, etwa durch einen Beinbruch, eingesetzt wird. Es war ein sogenannter Selbstfahrer, was bedeutete, dass eine selbstständige Fortbewegung nur mittels Armkraft des Fahrers möglich war – bei 20 Kilo Rollstuhlgewicht plus Fahrergewicht, eine sehr kraftraubende Angelegenheit. Für eine dauerhafte Nutzung war der Standardrollstuhl als „Fahrwerk“ wirklich nicht geeignet. Es sei denn, sein Fortbeweger trainierte für die nächste Weltmeisterschaft im Armdrücken. Mit anderen Worten: Christian brauchte fast immer eine Person, die ihn schob.

      Christians zweiter Bauchlieger-Wagen war im Vergleich zum ersten schon fast ein High-Tech-Modell. Der leitende Arzt des KIZE bezeichnete das Gefährt als Bauchfahrer-Liege. Sie war eigens für Christian angefertigt worden und verfügte über einen, von ihm über einen Joystick zu bedienenden Batterieantrieb. Bald konnte er sich mit dem Gefährt gut ohne fremde Hilfe fortbewegen. Der Motor wurde an die Räder geklappt und trieb sie an. Der elektrische Antrieb war ein erheblicher Freiheitsgewinn für Christian. Er war nun in der Lage, selbst fahren zu können. Meist war es aber so, dass die Person, die ihn begleitete, den Rollstuhl bediente.

      Wie schnell die Elektronik auf Bewegungen des Joysticks ansprach, ließ sich einstellen. Ebenso konnte man die maximale Geschwindigkeit vorwählen. Bei 6 km/h lag die Höchstgeschwindigkeit, ein Geschwindigkeitsrausch war damit ausgeschlossen. Das komplette Abschalten der Steuerung war natürlich auch machbar. Manchmal war dies die einzige Möglichkeit, Akkustrom zu sparen. Bei leeren Batterien war ohnehin nur Schieben möglich, was aber nur unter großer Kraftanstrengung zu schaffen war.

      Der Bauchlieger-Wagen gab Christian die Möglichkeit, sich auch alleine außer Haus zu bewegen. Kinder, die das ungewöhnliche Gefährt sahen, bezeichneten es gerne als fahrendes Bett, wobei es mit gerade mal 60 Zentimeter deutlich schmaler war. Wie beim Vorgänger-Modell waren auch hier an den Seiten Sicherungen angebracht worden, die verhinderten, dass er herunterfiel. Alles war gepolstert. Über den Joystick konnte er sein fahrendes Bett zwar selbst steuern, aber nur für kurze Zeit. Dann brauchte er wieder die Hilfe einer Begleitperson, die das für ihn übernahm. Die eingeengte Position machte das Steuern für ihn sehr anstrengend. Sein Körper wollte sich immer bewegen und wehrte sich gegen jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit mit wachsender Kraftanstrengung – und bis an den Rand der Erschöpfung; ebenso bis zur Materialerschöpfung. Trotzdem: sein elektrisch angetriebenes Liegebett war ein Segen für Christian. Für eine begrenzte Zeit war er mobiler. Dankbar genoss er es. Mit Liegebett und Begleitung konnte er ins Kino oder seinem Hobby, dem Birdwatching, nachgehen.

      Wie verrückt, dachte ich anfangs, wenn man kaum den Kopf ruhig halten kann, ein Hobby zu haben, bei dem man durch Ferngläser schauen muss. Nach unseren ersten Exkursionen wurde mir klar, dass er die Vögel schon am Gesang oder am Verhalten oder auch nur an der Silhouette erkannte. Er sah vor allem mit den Ohren und dann erst mit den Augen.

      Birdwatcher sind eigentlich ganz normale Menschen. Für andere Menschen, die einen solchen Vogelbeobachter in freier Natur zu Gesicht bekommen, sind sie jedoch ein seltsamer Anblick. Und weil sie zudem eher selten sind, jedenfalls seltener als Wanderer, Jogger oder Biker, hält man sie für ein wenig spleenig. In der Landschaft fallen sie auf, weil sie Beobachter von etwas sind, das man selbst nicht sieht. Sahen wir zum Beispiel in unserem „Jagdgebiet“, der Wagbachniederung, einem Naturschutzgebiet am Oberrhein nahe Karlsruhe, drei, vier, fünf oder mehr dieser Menschen, die einander nicht beachteten, aber doch vereint das Gleiche taten, nämlich jeder für sich durchs eigene Glas blicken und hochkonzentriert in die Ferne schauen, dann sah das schon ziemlich komisch aus. Sie schauten alle in eine einzige Richtung. Manchmal bewegten sie sich sogar synchron, wie an der Schnur gezogen, und folgten gemeinsam einem Punkt am Horizont oder hoch im Himmel, wobei sie das taten, ohne die Gläser von ihren Augen zu nehmen. Für uns war das ein gewohnter Anblick. Und wenn es uns mit Christians Liegerollstuhl möglich war, reihten wir uns ein und wurden ein Teil der Gruppe. Birdwatcher eben.

      Vögel entfachten in Christian ein Jagdfieber. Da sein Kopf aber immer in Bewegung war, war es ihm unmöglich, ein Fernglas vor die Augen zu halten und ein Spektiv nur mit sehr starker Willenskraft. Bremsen ließ er sich davon nicht. Zu sehr liebte er es, Vögel zu beobachten. Und so erarbeitete er sich andere Zugänge. Er hatte aus Büchern und von CDs gelernt. Es waren der Gesang, das Erscheinungsbild, die Art des Fluges und des Verhaltens, die ihm erlaubten, einen Vogel oft schon ohne technische Hilfsmittel zu identifizieren. Im Zweifel musste ich ran und genau beschreiben, was ich durch das Fernglas sah. Durch diese Art der Unterstützung, die ich immer wieder leistete, lernte auch ich mehr und mehr die Vogelwelt kennen. Vögel übten auf mich bald eine ähnliche Anziehungskraft aus wie auf Christian. Nun jagten wir dem Erlebnis gemeinsam hinterher.

      In der näheren Umgebung des Kinderzentrums, wo wir am Anfang unserer gemeinsamen Ausflüge unterwegs waren, trafen wir fast nie eine Menschenseele. Wir fuhren mit Kadett und Schweineanhänger ein paar Kilometer, parkten