Schwer behindert / leicht bekloppt. Bernd Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783907301081
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Bewegungen zeigte. Aus verschiedenen Arztberichten war dem medizinischen Personal bekannt, dass der Beginn von Christians Erkrankung im Dezember 1981 mit einer Ehekrise der Eltern einhergegangen war. Das gesamte Krankheitsbild war deshalb bisher in Verbindung mit der familiären Problematik der Eltern gebracht und deshalb als psychische Erkrankung betrachtet worden. Man behandelte ihn also wie einen „Geistesgestörten“, in dem Glauben, man habe es mit einem psychischen Defekt zu tun, der sich in einer Torsionsdystonie zeigte. Um seine heftigen Bewegungsstörungen einzudämmen, griff man zu einem drastischen Mittel: Man gipste ihn von der Hüfte abwärts ein. Im Gips scheuerte er sich wund. Die Folge: ein Druckgeschwür, eine Blutvergiftung und eine infektiöse Entzündung des Knochenmarks. Die Infektion hätte für ihn böse enden können. Dass sie glimpflich ausging, war einfach Glück. Ende 1985 verließ Christian die Klinik in Karlsruhe. Zwar hatte er auch diese medizinische Tortur überstanden, aber er war mehr denn je an Körper und Seele krank.

      Anfang 1986 kam er auf die Hauptschule nach Langensteinbach. Die Eltern hofften, dass der Schulbesuch etwas Normalität in sein völlig unnormales Leben bringen könnte. Die Schule in Karlsbad-Langensteinbach war ein Ausbildungsort für Körperbehinderte. Der Ort lag nur fünfzehn Autominuten von Karlsruhe entfernt. Als Christian dort hinkam, hatte er immer noch den Rollstuhl aus seiner Zeit in Baiersbronn. Dieser bekam eine gepolsterte Sitzschale, die das Sitzen verbessern und ihm so die Teilnahme am Unterricht erleichtern sollte. In seinem rollenden Spezialstuhl saß er Kopf und Oberkörper zur Seite gedreht, halb nach hinten hängend und die Beine nach vorne wegstreckend. Der Unterricht fand in Kleingruppen mit acht oder neun Schülern statt und begann um 8 Uhr morgens. Ein Fahrdienst holte ihn zu Hause ab. In der Schule bekam er ein Mittagessen. Nach dem Unterricht stand Krankengymnastik auf dem Tagesplan. Nachmittags gegen 15 Uhr wurde er wieder nach Hause transportiert, wo er gegen halb vier ankam. Er wohnte weiterhin bei der Mutter. Alle vierzehn Tage verbrachte er die Wochenenden bei seinem Vater. Mal hier, mal dort – für ihn war es immer ein unstetes Hin und Her und ein emotionales Achterbahnfahren gewesen.

      1989, im dritten und letzten Schuljahr, konnte er kaum noch am Unterricht teilnehmen. Seine Unruhe hatte wieder zugenommen. Er war fast nicht mehr aufnahmefähig. Regelmäßig brauchte er Diazepam. Er bettelte sogar darum, weil es ihm so furchtbar schlecht ging. Diazepam ist ein Psychopharmakon zur Behandlung von Angstzuständen und epileptischen Anfällen, das auch als Schlafmittel angewendet wird. Nicht immer hat er es bekommen.

      In seinem Gutachten schreibt Christians Kinderarzt an einen Kollegen: (…) Meine Beobachtungen von Christian in der Schule gehen dahin, daß in allen Stress- oder Spannungssituationen, auch in Unterrichtsstunden, in denen Christians geistige Kapazität gefordert wird, die extreme hypertone choreoathetotische Symptomatik zunimmt, bis zur völligen Unkontrollierbarkeit durch ihn selbst. In Situationen, in denen jedoch Christian emotional in Ruhephasen oder in lustigen, blödelnden Situationen, z.B. eine Kissenschlacht mit der Krankengymnastin, wird er entweder völlig entspannt oder reagiert körperlich so erstaunlich koordiniert, daß die Krankengymnastin oder ich selbst völlig erstaunt sind. Auch treten dann immer wieder völlig paradoxe Bewegungsreaktionen auf, z.B. wenn ich ihn auffordere, ein Kissen zwischen die Beine zu klemmen, damit seine hyperabduzierten Beine bzw. Knie nicht so stark aneinander reiben, kann es sein, daß er mit plötzlicher Abduktion, d.h. totaler Entspannung der Adduktoren reagiert.

       Von seiten der Mutter fällt mir auf, daß sie immer wieder betont, mit keinerlei Erwartungen zu Ärzten oder Psychotherapeuten zu gehen, auf der anderen Seite aber immer wieder äußert, daß sie sich erhofft, daß sich Christians Beschwerden wieder normalisieren. (…)

      Was Christian in Langesteinbach sehr gefiel, war ein Teich mit Molchen und anderen Wassertieren, die er dort entdeckt hatte. Oft beobachtete er auch Vögel, die er vom Fenster des Klassenzimmers aus sehen konnte. Regelmäßig kamen eine Bachstelze und ein Hausrotschwanz.

      Während seiner Zeit in Langensteinbach wurde Christian viermal von seinen Eltern zur Untersuchung ins Zentrum für Kinderheilkunde des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt gebracht und dort dem Leiter der Abteilung für Pädiatrische Neurologie, Prof. Dr. med. G. Jacobi, vorgestellt: September 1987, November 1988, Oktober 1989 und Januar 1990. Nach jeder Untersuchung wurde ein Bericht verfasst; im vorletzten schilderte Professor Jacobi den Zustand Christians mit deutlich spürbarer Betroffenheit:

       (…) Mir wurde der Junge erstmals am 22.9.87 ambulant vorgestellt, und zwar von beiden Eltern. Der Junge war zu diesem Zeitpunkt abgemagert, fast das gesamte Unterhautfettgewebe war geschwunden, allerdings waren die Muskeln bedingt durch die ständigen Hyperkinesen eher hypertrophiert. Von der Beschreibung her stellte sich die Hyperkinese als Mischbild zwischen einer torsionsdystonen und choreoathetotischen Bewegungsunruhe dar, die choreatischen Bewegungen traten bei Anspannung und im Affekt deutlicher hervor, während bei intendierten Bewegungen, wie die Hand geben oder auf ein Ziel deuten, der Junge nur mit maximaler Willensanspannung, dann aber doch diese Bewegung ausführen konnte. (…)

      Am 12. Januar 1990 verfasste er den vierten und letzten Bericht:

      (…) ich habe mir heute nochmals den Jungen angesehen und ein langes Gespräch mit beiden Eltern und dem Buben selber geführt.

      Ich hatte Christian zuletzt im Nov. 88 (nach den vorliegenden Berichten tatsächlich Okt. 89) gesehen und war, ehrlich gesagt, sehr betroffen über die ausgeprägte Verschlechterung seines Zustandes: Allein die Hautveränderungen geben beredten Ausdruck der ständigen Hyperkinesen: Die gesamte Stirn, die Kinnpartie, beide Ellenbogenseiten dorsal, die Kniegelenke, aber auch der gesamte Handrücken und die Handinnenfläche sind hyperkeratotisch verändert und bräunlich pigmentiert. Dazu kommen oberflächliche Exkoriationen, die Handinnenfläche schilfert teils fein-, teils grobschilfrig ab. An der Nasenwurzel hat er eine Druckstelle, die durch den untergelegten Zeigefinger in Ruhe oder im Schlaf resultiert. Vielleicht etwas durch die Autofahrt provoziert und die besonderen Umstände der Vorstellung bewegte der Junge sich spontan und unkontrolliert auf einer 2 x 2 m großen Unterfläche bis weit über deren Rand hinaus. Etwa 10 Minuten nach Gabe einer 10 mg Diazepam-Rect. war er dann ruhig, konnte ganz klar sprechen, war aber, wenn man ihn ansprach, wieder, wie er selbst sagte, voll innerer Spannung. Ohne einen solchen medikamentösen Kunstgriff sind seine Sehnen vor allem im Bereich der Kniekehle, der Ferse, aber auch Bicepssehnen und der gesamte Erector trunci derartig verspannt, dass man die einzelnen Gelenke kaum aus den eingenommenen Stellungen passiv bewegen kann. Beeindruckend ist weiter das oberflächliche Venengeflecht an den Armen, wie man es sonst nur von manuellen Schwerstarbeitern zu sehen gewohnt ist. Der Junge ist immer warm, wie die Eltern sagen, seine Haut optimal durchblutet, das Unterhautfettgewebe fehlt fast völlig, wenn er essen kann, ißt er wohl sehr viel, auch sehr kalorienreich. Trotzdem hat er in den 1½ Jahren nur 2,3 kg zugenommen: Er wiegt jetzt 28,5 kg (…), seine Körperlänge beträgt ungefähr 143 cm (…).

      Neu waren mir an dem Beschwerdebild auch seine Klagen über sein ständiges “Kribbeln im Kopf“, ein schmerzhaftes Kribbeln und ausstrahlende Schmerzen am Scheitel der funktionellen rechtskonvexen Skoliose in Höhe des IV. BWD, und weiter die Angaben über Pelzigkeit der drei äußeren Finger der linken Hand.

      Wenn ich es richtig verstanden habe, so kreisen die Gedanken des Jungen häufig um sein Ende: Daß er sich durch seine Muskelspasmen einen Bandscheibenprolaps holt, der zu einer Querschnittslähmung führt, oder zu einem Atemstillstand. Auch hat er wohl selbst die Vorstellungen, daß durch die Spasmen sein Gehirn in irgendeiner Weise „zerreißen“ könnte. Man gewinnt bei diesen Angaben den Eindruck einer latenten Suizidalität. Ihnen (gemeint ist der Kinderarzt Christians) und seinen Eltern gegenüber soll er ja wohl auch schon direkte Selbstmordgedanken und -absichten geäußert haben, was verständlich ist. Jedenfalls ist er sich bewußt, daß sein Leiden ihm selber zur unerträglichen Last geworden ist (…). Es war mir sehr wertvoll zu wissen, dass inzwischen sowohl Frau Eschenbach, die Leiterin des C.G. Jung-Instituts in Stuttgart, als auch Herr Müller-Küppers, der Heidelberger Ordinarius für Kinderpsychiatrie, eine Psychogenität des gesamten Krankheitsbildes ablehnen. Daß psychogene Überlagerungsmechanismen bei einem solch schweren organischen Krankheitsbild entstehen, kann gar nicht ausbleiben.

      Mitte Januar 1990 verließ Christian die Schule in Langesteinbach wieder. Er wurde ausgeschult, wie