Schwer behindert / leicht bekloppt. Bernd Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783907301081
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Oder soll ich dein Bett etwas drehen?“

      „Geht so.“

      „Nach was schaust du?“

      „Nach der Natur. Kannst du mich auf die Fensterbank setzen? Aber bitte mit Kissen.“

      „Du meinst, ich soll dich rüberheben?“

      „Wenn du’s schaffst.“

      „Ich bin mir sicher, dass ich das schaffe.“

      „Ich nicht.“

      „Soll ich?“

      „Los, mach’ schon.“

      Ich legte den einen Sandsack zur Seite, schob meine Arme unter seinen schmächtigen Körper und hob ihn an. „Du bist aber schwer, mein Großer“, sagte ich zum Scherz.

      Er legte seinen dünnen Arm um meinen Hals. „Wart ab, bald bin ich groß. Dann hast du ’n Problem“, sagte er grinsend.

      Ich setzte ihn auf der Fensterbank ab. Mit dem Rücken lehnte ich ihn seitlich an den Fensterstock. Die Beine und Füße hob ich auf die Fensterbank. So konnte er einigermaßen sitzen.

      „Du musst mich festhalten, damit ich nicht runterfalle.“

      „Keine Bange, Bernd macht das.“

      Mit seinen knochigen Wangen, den dunklen Augen, schwarzen Augenbrauen und dem kurzen, dunkelbraunen Haar wirkte er irgendwie ernst. Außer wenn er lächelte, dann formten sich seine Augen zu lustigen Schlitzen und der Mund wurde ganz breit. Aber eigentlich, dachte ich, hat er ja auch allen Grund, ernst zu sein. Er hatte den Kopf zum Licht gedreht. Ich stand wie eine lebende Absturzsicherung bei ihm.

      „Bist du schon lange hier, Christian?“

      „Februar.“

      „Und davor?“

      „Hauptschule Langensteinbach. Schule für Körperbehinderte. Wieso?“

      „Ja, wieso? Ich will es einfach wissen. Nur so.“

      „Wenn du öfter kommst, macht es Sinn. Nur so, nicht.“

      „Kommt drauf an. Ich bin in Gruppe 2 und heute nur der Ersatzmann hier.“

      „Schade.“

      „Ich mach’ die Dienstpläne ja nicht.“

      „Du kannst mich aber ruhig öfter besuchen.“

      „Hm …“

      Im Raum waren noch andere Kinder, um die sich aber die Schwester kümmerte. Das zweitälteste Kind nach Christian, war zehn, keines war in dieser Gruppe unter acht. Es waren immer sechs Kinder zu betreuen. Da war das Kind, das geistig und körperlich behindert war und intensive Betreuung und Pflege brauchte. Da war das lernbehinderte Kind, da war das verhaltensauffällige Kind, da war das hyperaktive Kind. Ein kleiner Kreis mit großen Problemen. Hyperaktive Kinder waren oft zur Diagnose oder zur medikamentösen Einstellung im Haus. Bei anderen ging es ganz grundsätzlich darum, einen Ansatz für die passende Therapie zu finden. Zwei Kinder waren nur befristet zur Entlastung der Eltern in Gruppe 3 untergebracht worden. Die Gruppe war lebhaft. Überwiegend waren es Jungs. Hin und wieder kam auch mal ein Mädchen dazu. Jedenfalls war hier immer etwas los. Auch heute wieder. Schreien, lachen, rufen, streiten. Aus dem Augenwinkel konnte ich ein fliegendes Schachbrett sehen. Ich fragte mich, wie Christian hier wohl Ruhe fand, warum er nicht lieber in seinem Zimmer war. Aber Ruhe war vielleicht genau das Gegenteil von dem, was er jetzt brauchte. Im nächsten Moment hatte sich eines der Kinder verletzt. Es blutete an der Hand. Ich nahm Christian vom Fensterbrett und legte ihn rasch wieder auf sein Bett. Die Schwester hatte schon den Erste-Hilfe-Kasten gegriffen, und wir legten dem Jungen rasch einen Verband an, um die Blutung zu stillen. Später musste er genäht werden.

      Eines der Kinder, ein blonder Junge, war mir besonders aufgefallen. Sein Name war Johann. Als ich im KIZE angefangen hatte, war er noch hier in der Gruppe 3 gewesen. Er hatte mit Christian das Zimmer geteilt. Das letzte Mal, als ich zum Aushelfen in der Gruppe gewesen war, hatte ich ihn noch gesehen. Ein intelligenter Kerl, der seinen Eltern zu Hause erhebliche Sorgen bereitet hatte, weil er seinem Leben im Alter von 11 Jahren ein Ende bereiten wollte. Im Kinderzentrum hatte er sich vor ein paar Tagen mit einem Handtuch selbst erwürgen wollen.

       4. Kapitel

      Meine Arbeit in der Kinderklinik war wie ein Eintauchen in eine völlig fremde Welt. Ich musste alles lernen, wollte alles wissen. Ich kam nicht nur mit jungen Menschen wie Christian und ihren für mich unbekannten Schicksalen in Berührung, nein, fast nebenher auch mit mir gänzlich unbekannter Technik und ihren vielen Tücken. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich eines Tages für Rollstühle interessieren müsste. Mit dem ersten Liegerollstuhl, den Christian in Maulbronn bekam, konnte er nichts Besonderes anstellen – außer vielleicht in einem Moment mangelnder Aufmerksamkeit seines Betreuers den Berg hinunterrasen. Immerhin wusste ich von dem Tag an, woher der Rollstuhl seinen Namen hatte.

      Christians erstes fahrbares Gefährt war improvisiert, im wahrsten Sinne aus der Not geboren; eine Matratze auf einem Brett, montiert auf einem hölzernen Leiterwagen, machte aus einem Spielgerät ein fahrbares Liegebett. Er war acht Jahre alt gewesen. Das Wägelchen ermöglichte ihm, von zu Hause aus Spaziergänge mit Begleitung zu unternehmen. Den Rollwagen hatte ihm sein Vater konstruiert. Als Christian noch sitzen konnte, befestigte er manchmal auch einfach einen Campingstuhl für seinen Sohn auf dem Leiterwagen. So konnte er im Garten des elterlichen Hauses bewegt werden. Er war leicht zu transportieren. Ein hageres Jüngelchen, bei dem man die Rippen zählen konnte, auf einem ebenso zerbrechlich wirkenden Stühlchen mit einer dünnen, rot-weiß gestreiften Polsterauflage.

      Als seine Behinderung zur dauerhaften und sich ausweitenden Erkrankung zu werden drohte, brachte man ihn im Frühjahr 1982 zur Untersuchung nach Heidelberg. Dort wurde er in die Pädiatrie – das Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg – aufgenommen. Man gab ihm einen Rollator, wie ihn ältere, gehbehinderte Menschen bekommen. In Heidelberg blieb er bis Juli 1983. Nach Hause kam er nicht mehr. Sein Zuhause, wie er es kannte, existierte nicht mehr. Anfang 1983 hatten sich die Eltern getrennt.

      Sofort nach seinem Aufenthalt in der Heidelberger Pädiatrie, brachte man Christian in den nördlichen Schwarzwald nach Baiersbronn. Den ganzen Sommer, den Herbst und fast den ganzen Winter verbrachte er im Osterhof, einem psychotherapeutisch heilpädagogischen Kinderheim. Der Osterhof verstand sich seit seiner Gründung als „Brücke zur Familie“. Ziel der Therapie in dieser Einrichtung war die Reintegration der Kinder in den Familienkreis. Christians Familie war aber zerbrochen.

      Von Januar bis September 1984 wohnte er gemeinsam mit der Mutter bei den Großeltern. Dort lebte er seinen Alltag, ohne den Vater oft zu sehen. In der Wohnung robbte er auf den Knien. Außerhalb der Wohnung bewegten ihn Großeltern und Mutter in einem Rollstuhl, den er in Baiersbronn bekommen hatte, der aber nur für kurze Strecken geeignet war; zu kippelig, zu unsicher für seine starken Bewegungsstörungen.

      Im Oktober 1984 erfolgte seine Aufnahme in die Pädiatrie des Klinikums Karlsruhe. Der Rollstuhl war sein ständiger, aber unliebsamer Begleiter geworden. Damit rollte er jetzt von Krise zu Krise. Während des vergangenen halben Jahres hätten sich nach den Einschätzungen und Vorstellungen seiner Therapeuten seine Bewegungsstörungen verbessern sollen. Das Gegenteil war der Fall. Die Trennung der Eltern, der „Verlust“ des Vaters, die wechselnden Lebenssituationen, die Aussichtslosigkeit auf eine Verbesserung seiner gesundheitlichen Situation, gleich gar die zerschlagene Hoffnung auf ein normales Leben, all das hatte seine Seele belastet und eine latente Depressionen verstärkt. Sein Körper reagierte mit starken Verkrampfungen. In seinem Rollstuhl sitzend gab er das Bild eines Spastikers ab, der gegen seine krampfartigen Muskelspannungen ankämpfte. Ein aussichtsloser Kampf ungleicher Gegner.

      In der pädiatrischen Abteilung des Klinikums Karlsruhe war Christian inzwischen zu einem Problemfall geworden, der bereits eine Reihe von Medizinern beschäftigt hatte, ohne, dass für den Hauptleidtragenden eine befriedigende Lösung hatte herbeigeführt