Schwer behindert / leicht bekloppt. Bernd Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783907301081
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sich hätte verletzen können, oder einfach, um überhaupt zur Ruhe zu kommen, bekam er Psychopharmaka, wie man sie auch Parkinson-Patienten gegen starkes Zittern gibt. Von diesen krampflösenden und muskelentspannenden Präparaten war er abhängig. Ohne diese Medikation ging gar nichts.

      Die ersten Anzeichen seiner Krankheit zeigten sich bei ihm im Alter von sechs Jahren. Als eine beginnende generalisierte Dystonie wurden seine Symptome zunächst noch nicht erkannt. Zuerst war sein rechter Fuß davon betroffen. Fast unbemerkt begann dieser zu „spinnen“. Christians Eltern dachten wohl, es sei eine Sache, die vorüberginge. Zwei Monate später fing der linke Fuß an. Schuhe konnte Christian bald nicht mehr tragen. Jetzt begann der rechte Fuß nach innen zu ziehen. Das machte das Auftreten schwierig. Dann bekam er Probleme, überhaupt Schritte zu machen, weil sich die Beine nicht mehr nach vorne bewegen ließen. Es ging weiter, bis die Krankheit von seinem Körper so weit Besitz genommen hatte, dass er gar nicht mehr laufen und später auch nicht mehr sitzen konnte. Er konnte den Oberkörper nicht mehr aufrechthalten, die Arm- und Handfunktionen waren gestört. Geistig verlief seine Entwicklung wie bei jedem normalen Kind, doch viele, die ihn nicht kannten, dachten, er sei geistesgestört. Grund dafür war sein ungewöhnliches Verhalten, waren seine krampfartigen Gesten, seine plötzlichen Bewegungen, die ohne jeden erkennbaren Sinn abliefen, seine Muskelverkrampfungen, die den Kopf nach hinten oder den Oberkörper nach vorne zogen. Er erzählte mir das alles bei meinen Besuchen. Nach und nach. Er erzählte von dem Tag im Dezember 1981, als alles mit dem einen Fuß angefangen hatte, vom Klinikaufenthalt in Heidelberg im darauffolgenden Februar und wie er dort in der Klinik auf dem Boden lag und sich unkontrolliert bewegte. An die drei Monate dazwischen hatte er keine Erinnerung mehr.

      (…) Alle bekannte Literatur beschreibt das Zustandekommen eines solchen Krankheitsbildes sehr schleichend über Monate und Jahre und nicht binnen weniger Wochen. (…) So formulierte es sein Kinderarzt Anfang 1989 in einem Schreiben an einen Kollegen, bei dem er um fachlichen Rat gebeten hatte.

      Dass es sich bei seiner Krankheit um eine spezielle Funktionsstörung im Gehirn handelte, die sich negativ auf seine Bewegungsabläufe, aber nicht auf seine Intelligenz und damit auch nicht auf seine Denkleistung auswirkte, musste auch ich erst verstehen. Er war geistig vollkommen normal, aber gefangen in einem Körper, der ihm jegliche Kontrolle entzogen hatte.

      Seit Februar ’90 lebte er in der Maulbronner Kinderklinik. Zum Zeitpunkt seiner Einlieferung war er aufgrund seiner körperlichen Probleme sehr depressiv gewesen. Sein Zustand hatte sich zuvor sehr verschlechtert, sodass es ihm nicht mehr möglich gewesen war, den Unterricht an der Schule für Körperbehinderte in Langensteinbach zu besuchen.

      In Maulbronn hatte man zunächst die schon Ende 1989 begonnene Behandlung gegen die Störungen der Muskelspannung fortgesetzt. Daneben hatten täglich psychotherapeutische Gespräche und krankengymnastische Übungsbehandlungen stattgefunden. Ein weiterer Behandlungsversuch mit einer Kombination von Timonil, einem Medikament zur Behandlung von epileptischen Anfallserkrankungen, und Orap, einem Neuroleptikum zur Behandlung spezieller psychischer Erkrankungen, sowie abendlichen Gaben des Schlafmittels Diazepam musste wegen zunehmender Bewegungsstörungen nach einigen Wochen abgebrochen werden. Ab Mitte Mai 1990 hatte sich Christians Zustand unter einer kombinierten Behandlung von Akineton (gegen Bewegungsstörungen), Timonil (zur Behandlung von epileptischen Anfallserkrankungen) und Frisium (beruhigendes und angstlösendes Medikament) erheblich verbessert, die bizarren Bewegungen nahmen deutlich ab, seine Stimmungslage verbesserte sich, auch das Interesse an sozialen Kontakten nahm zu.

      Jetzt im Herbst, nach umfangreicher Behandlungsprozedur, ging es ihm schon wieder besser. Er konnte in Bauchlage Bücher lesen und seinen Kassettenrecorder selbstständig bedienen, führte leichte Werkarbeiten aus und beteiligte sich an Spielen am Tisch. Soweit es ihm möglich war, half er auch in seiner Stationsgruppe mit und wischte nach dem Essen den Gruppentisch ab. Mit seinem einfachen Bauchlieger-Selbstfahrer hatte er gelernt, sich über kurze Strecken fortzubewegen. Schwierig war für ihn noch das Sitzen. Er schaffte es zwar, aus der Bauchlage in den Fersensitz hochzukommen, aber langes Sitzen in dieser Position strengte ihn sehr an. Dass er den Kassettenrecorder wieder bedienen konnte, war sein größtes Glück.

       3. Kapitel

      Ich war selbst überrascht, wie viel Spaß mir die Arbeit mit den Kindern im KIZE machte. Aber nicht nur die Arbeit war befriedigend für mich, auch der Ort war außergewöhnlich. Mit meinen Augen, aber auch mit meinem Herzen sah ich vor mir außerhalb der alltäglichen Welt eine besondere. Die Lage der Klinik, oben am Waldrand mit Blick über die kleine Stadt, verstärkte zudem mein Empfinden, dass hier etwas Besonderes vor sich ging und ich daran teilhaben durfte. Vor etwa drei Monaten war ich der Kinderstation zugeteilt worden. Offiziell war ich einer der Zivildienstleistenden des Betreuungspersonals der Gruppe 2 der Kinderstation, die wie alle Kindergruppen im ersten Obergeschoss untergebracht war. In meiner Gruppe waren die Kinder mittleren Alters; die jüngsten zählten gerade mal fünf Jahre, die älteren zwölf. Ich war für die Grundversorgung der Kinder zuständig: waschen, baden, Essen servieren oder füttern und abends gemeinsam mit ihnen spielen. Während der Woche hatten die Kinder den ganzen Tag Programm und waren somit durchgehend beschäftigt. Es gab Lehrer, Psychologen, Logopäden, Beschäftigungs- und Ergotherapeuten sowie Physiotherapeuten. Fast alle hatten irgendwelche Therapiestunden, oder sie besuchten den hauseigenen Unterricht. Daher arbeiteten wir nach einem geteilten Dienstplan. Der Arbeitstag wurde von einer vierstündigen Pause zwischen Mittag und Nachmittag unterbrochen. Am Wochenende aber waren wir Zivis umso gefragter. Dann waren wir die Programmgestalter.

      Manchmal nahm ich mir ganz kurz Zeit und sah von hier oben im ersten Stock des KIZE aus einem der Fenster auf die kleine, feine Stadt Maulbronn unten im Tal, mit den Häusern und den roten Dächern, mit dem mächtigen Klosterbau und dem Tiefen See, mit dem Wald und den Weinbergen drumherum, und mich durchfuhr ein Gefühl des Glücks. Ich war froh, nun meinen Platz gefunden zu haben.

      Meine Dienstzeit begann um 7 Uhr morgens und endete zunächst um 12 Uhr 30; nachmittags ging es von 16 Uhr 30 bis 19 Uhr weiter. Durch die Zweiteilung war gewährleistet, dass immer ein Zivi und eine Schwester zugegen waren, zu den Mahlzeiten und vor allem morgens beim Aufstehen. Bei vier Gruppen mit je sechs Kindern war das auch notwendig, denn die Kinder zeigten oft sehr unterschiedliche Krankheitsbilder. Es war höchste Aufmerksamkeit gefordert. Entsprechend arbeitsintensiv war der Betreuungs- und Pflegeaufwand.

      Bei notorisch dünner Personaldecke kam es gelegentlich vor, dass man in anderen Gruppen aushelfen musste. So kam ich in die Gruppe 3 mit den etwas älteren Kindern. Diese waren gerade im Gruppenraum. Zum ersten Mal nahm ich Christian richtig wahr. Bisher, wenn er sich zu uns gesellt hatte, war ich in der Gruppe der anderen Zivis doch ziemlich abgelenkt und er für mich noch einer von vielen gewesen. Weil er sein Zimmer selbstständig nicht verlassen konnte, hatte man ihn auf seinem Krankenhausbett in den Gruppenraum geschoben. Tagsüber konnte er so bei den anderen sein oder auch seine Mahlzeiten mit den Kindern, den Zivis und Schwestern im Gruppenzimmer einnehmen. Was mir sofort auffiel: Er lag auf dem Bauch. Er hatte Sandsäcke auf dem Bett, die seine Position stabilisieren und – was ich erst später erfuhr – seine unkontrollierten Bewegungen eindämmen sollten. Sein Rollbett stand am Fenster. Er sah nach draußen, vielleicht etwas sehnsüchtig, so kam es mir zumindest vor. Sein schlanker Körper und seine sehnigen Hände fielen mir auf. Sicher hätte er ein paar Kilos mehr vertragen können. Er trug ein dunkelblaues Sweatshirt und eine Jogginghose, an den Füßen graue Socken, auffällig verrutscht. Als ich mich neben ihn stellte, blickte er zu mir. Kaum lächelnd betrachtete er mich. Ich sah in wache Jungenaugen. Dann drehte er den Kopf zum Fenster zurück und wirkte wieder etwas verloren. Er sah hinaus, als würde er Ausschau halten.

      „Das Wetter ist gut heute“, sagte er.

      „Ja, gutes Wetter. Schaut so aus, als bekämen wir einen schönen Spätsommer.“

      „Ja, stimmt.“

      „Ist dir langweilig? Soll ich dir Gesellschaft leisten?“

      „Nein. Ja.“

      „Nein oder ja?“

      „Nicht langweilig. Aber Gesellschaft, ja.“