Psychiatrie in Bewegung. Mario Gmür. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mario Gmür
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783907301074
Скачать книгу
Eigenschaften von Methadon

      Methadon ist ein synthetisches Morphiumpräparat. Bei einem nichtheroinabhängigen gesunden Menschen bewirkt es bei genügender Dosierung eine exzessiv-euphorisierende Wirkung, bei einem Heroinabhängigen indessen nur den Ausgleich der quälenden Entzugserscheinungen. Methadon führt also beim Heroinabhängigen nicht zu einer Schlaraffenlandisierung seines Lebens, sondern wendet lediglich die Hölle des Entzugssyndroms ab. Es besänftigt zwar das physiologische Bedürfnis nach Heroin, jedoch nicht das psychische Verlangen darnach. Aus diesem Grunde beschaffen sich auch Methadon-Patienten gelegentlich, vor allem in psychosozialen Krisensituationen (Stellenverlust, Beziehungskonflikte) Heroin. Zwischen Methadon und Heroin besteht eine Kreuztoleranz: Das Methadon errichtet eine Barriere gegen die Wirkung einer zusätzlich verabreichten Heroininjektion. Der clevere Methadon Patient drängt daher unter Umständen eher auf eine Reduktion der Methadon-Dosierung als auf eine Erhöhung, wenn er mit einem Rückfall in den Heroinkonsum liebäugelt.

      Im Unterschied zu Alkohol, Zigaretten und Phenacetin sind vom Methadon wie von allen andern Opiaten bei regelrechter Anwendung keine schädlichen Wirkungen zu erwarten (4), insbesondere auch keine Beeinträchtigung intellektueller und psychomotorischer Funktionen (5, 6) und der pränatalen und neonatalen Entwicklung (7, 8, 9). Vegetative Begleiterscheinungen wie Schlaf–, Appetit und Sexualstörungen und psychische Entgleisungen wie depressive und suizidale Anwandlungen, Angstzustände und Alkoholismus werden hingegen bei einer beachtlichen Zahl der Behandelten beobachtet, nötigen jedoch kaum je zum Behandlungsabbruch (10, 11, 12, 13).

      Praktische Durchführung

      Ein therapeutisches Konzept hat seine Bewährungsprobe in der praktischen Anwendung zu bestehen. Im täglichen Umgang mit Methadon tauchen aber immer wieder Fragen auf, wie man sich in bestimmten Situationen zu verhalten habe. Weil immer wieder mit ähnlich gearteten Schwierigkeiten zu rechnen ist, sind wir auf eine therapeutische Strategie angewiesen. Ähnlich wie in einem Schachspiel müssen wir bereits bei der Eröffnung der Therapie die richtigen Schritte einleiten, um antizipatorisch den zu erwartenden Schwierigkeiten zu begegnen. Meine Richtlinien und Ratschläge betreffen lediglich das Eröffnungsspiel, die Einleitungsphase, wo bereits die Weichen für die Zukunft richtig gestellt werden müssen. Der weitere Behandlungsverlauf differenziert sich bei jedem einzelnen Patienten aus einer spezifischen und individuellen therapeutischen Situation heraus, die dem Arzt in jedem Fall seine eigenen und besonderen kreativen Beiträge abverlangt.

      Der therapeutische Kontrakt

      Nach der Indikationsstellung zur Methadon-Behandlung wird man dem Patienten in einem therapeutischen Kontrakt alle Bedingungen und Modalitäten der Behandlung auseinandersetzen. Vor Beginn der Behandlung ist dem Patienten eine mindestens mehrstündige Bedenkzeit einzuräumen, in welcher er seine Motivation nochmals überdenken kann. Im Verlaufe der Behandlung gilt es, immer wieder auf diese Abmachungen zurückzugreifen. Bei vielen Patienten nimmt die Klarstellung des Therapiekontraktes zahlreiche Stunden in Anspruch! Was bei der ersten Besprechung als vorbehaltlose Zustimmung des Methadon-Anwärters zu allen Vereinbarungen imponiert, ist oft schon nach wenigen Tagen wie verflogen! Folgende Punkte müssen im Vertrag (mündlich oder schriftlich) festgehalten werden:

      1.Die Behandlung ist langfristig angesetzt, auf unbestimmte Zeit, in der Regel Jahre. Es werden keine kurzfristigen Entzugsbehandlungen durchgeführt.

      2.Tägliches Erscheinen in der Behandlungsstelle während der Öffnungszeiten ohne Ausnahme. Einnahme des Methadons unter Aufsicht des Arztes oder der Arztgehilfin.

      3.Für Samstag/Sonntag wird das Methadon jeweils am Freitag in zur Injektion nicht geeignetem Orangensaft bzw. als angesäuerte Lösung mitgegeben.

      4.Zwei Urinkontrollen pro Woche ohne Vorankündigung.

      5.Bei längeren Abwesenheiten des Patienten, die sich an den üblichen Ferienansprüchen zu orientieren haben, kann bei rechtzeitiger Mitteilung die Abgabe von Methadon am Ferienort durch einen Arzt oder eine Apotheke organisiert werden. Trampen mit ständigem Ortswechsel fällt indessen ausser Betracht.

      6.Die Arbeitsstelle muss im Einzugsgebiet der Behandlungsstelle gesucht werden, so dass das tägliche Erscheinen zur Methadon-Einnahme gewährleistet ist. Ein Mitgeben des Methadons kommt auch bei auswärtiger Arbeit nicht in Frage.

      7.Durchschnittlich einmal pro Woche sowie bei anfallenden Problemen hat der Patient zu einer Aussprache zu erscheinen, entsprechend seinen eigenen Aussprachebedürfnissen und denjenigen des Arztes.

      8.Der Arzt hat das Methadon während der Öffnungszeit seiner Praxis so vorbereitet, dass der Patient bei seinem täglichen Erscheinen keine Wartezeiten in Kauf nehmen muss.

      9.Die Dosierung des Methadons wird so festgelegt und jeweils angepasst, dass der Patient nicht auf Entzug kommt. Er soll keine Hemmungen haben, Unterdosierungen bzw. Entzugserscheinungen mitzuteilen.

      10.Ein Zusammenleben mit einem Fixer in einer Wohngemeinschaft ist nicht vereinbar mit der Methadon-Behandlung, da die Versuchung zu Heroinkonsum zu gross wäre.

      11.Im übrigen werden an das Verhalten des Patienten bezüglich Arbeit, Beziehungen keine weiteren Bedingungen geknüpft.

      12.Ein systematisches Weiterfixen, Handel mit Drogen oder schwere Delinquenz hat Ausschluss aus dem Methadon-Programm zur Folge.

      Ärztlich-therapeutische Interventionen im Behandlungsverlauf

       Was tun, wenn?

      Was tun, wenn Schwierigkeiten auftauchen? Wie sollen wir uns verhalten? Unsere Reaktionen sind wie immer individuell gefärbt, entsprechend unserer Persönlichkeitsstruktur und therapeutischen Grundhaltung. Meine Empfehlungen sind auch nur für denjenigen massgebend, der sich am oben dargelegten Therapiekonzept zu orientieren vermag.

      1.Patient erscheint nicht zur Methadon-Einnahme

      Das Nichterscheinen des Patienten zur Methadon-Einnahme wird an einem überlasteten Arbeitstag mitunter lediglich am Übrigbleiben des zubereiteten Methadons bemerkt. Es verlangt eine sofortige Reaktion des Arztes am folgenden Tag, ein klärendes Gespräch, eine dringliche Mahnung (die gelbe Karte). Das regelmässige tägliche Erscheinen ist das A und O des Methadon-Erhaltungsprogrammes. Im allgemeinen kann angenommen werden, dass der Patient beim Nichterscheinen sich mindestens eine Heroininjektion verabreicht hat.

      2.Positiver Urinbefund

      Das psychische Verlangen nach der orgastischen Wirkung einer Heroininjektion («Einfahren») meldet sich auch beim gut auf Methadon eingestellten Patienten von Zeit zu Zeit. Mit positiven Urinbefunden muss daher bei fast allen Methadon-Patienten gerechnet werden. Sie können übrigens, besonders im Anfangsstadium, den Behandlungsverlauf auch günstig beeinflussen. Wenn das Heroin nicht «eingefahren» ist wegen der Methadon-Barriere (Kreuztoleranz), kann diese enttäuschende Erfahrung den Patienten vor weiteren Heroininjektionen abhalten. Der positive Urinbefund soll in jedem Fall dem Patienten mitgeteilt und beanstandet werden. Die Zuverlässigkeit der Urinprobe stärkt sein Vertrauen in das Behandlungskonzept. Beschimpfungen oder übertriebene Unmutsbezeugungen gegenüber dem Patienten sind indessen fehl am Platz: Da der Laborwert gewöhnlich erst 1–2 Wochen nach dem Rückfall eintrifft, ist eine solche Reaktion zeitlich verspätet und daher verfehlt. Auch erweist sich eine bestrafende oder moralisierende Haltung gegenüber dem Patienten oft als ein wenig erpriessliches Mitagieren mit dessen Selbstbestrafungsbedürfnis. Die ausgeglichen-strenge Haltung ist gerade bei dieser oft provokatorischen Haltung des Patienten die angemessene. Man kann ihm etwa sagen: «Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass letzte Woche ein Urinbefund positiv ausgefallen ist und dass sich das nicht wiederholen sollte; wir müssen dann bei der nächsten Besprechung darauf eingehen, weshalb das so gekommen ist.» Liegt indessen ein systematisches Weiterfixen vor (eine Reihe positiver Urinbefunde trotz wiederholter Ermahnungen), so ist ein konfrontativ-ermahnendes Gespräch angezeigt, in welchem dem Patienten klargestellt wird, dass er nicht die Doppelidentität eines Fixers und Methadon-Patienten weiterführen darf, sondern sich zwischen Heroin-Fünfer und Methadon-Weggli zu entscheiden