(Wenn man unterwegs war, musste man einem beim nächstbesten Keller Eintritt gewähren.)
Also gehen wir von der Siebenbrunnenfeldgasse über die Wiedner Hauptstraße zum Stephansdom. Das war eine aufregende Geschichte, denn meinen Vater kannte ich kaum, ich lernte ihn eigentlich erst auf diesem »Spaziergang«, bei dem er mich knapp Vierjährigen auch auf den Schultern trug, näher kennen.
Auf dem Rückweg, bei der Paulaner-Kirche, es ist gegen Mittag, plötzlich Sirenengeheul über ganz Wien. Bombenalarm! Bei mir zieht sich sofort alles zusammen. Angst. Mein Bauch rumort.
Papa geht ganz ruhig auf ein Haustor vis à vis der Paulaner-Kirche zu. Wir steigen aber nicht, wie vorgeschrieben, hinab in den Keller, sondern Papa bleibt in der Einfahrt stehen. »Papa!«, ich zupf an seinem Trachten-Sakko, »die Mama hat gesagt, wir müssen in einen Keller, wenn es Bombenalarm gibt.«
»Das ist mir zu gefährlich«, sagt Papa. »Schau, ich kenn mich da durch den Krieg und nach allem, was ich an der Front in Frankreich und in Russland erlebt habe, ganz gut aus. Ich werd’s dir erklären. Jetzt sind wir einmal ganz still und konzentrieren uns auf das, was wir hören können.«
Ich spüre noch heute die innere Spannung und die bange, unglaubliche Neugier in mir, wenn ich mich an die folgenden Minuten erinnere – erstens tun wir etwas von Mutti Verbotenes, zweitens etwas mir gänzlich Unbekanntes, ein Abenteuer, dessen Gefährlichkeit ich ganz unbestimmt ahne.
Minutenlang bleiben wir still im Haustor stehen, die Wiedner Hauptstraße ist eine einzige Leere, niemand auf der Straße, es ist unheimlich, welche Spannung in der Luft liegt …
Dann hört man leises Motorengeräusch am Himmel, wie von einer Nähmaschine klingt es.
Papa: »Hörst du das!?« – »Das sind kleine amerikanische Flugzeuge, die die Lage erkunden. Wenn sie feststellen, dass keine feindlichen Flieger über Wien sind, melden sie das weiter – und dann geht’s los.«
Papa: »Wart ein bisschen, dann wirst du das nächste Geräusch hören.« Und wirklich – wie ein Schwarm kräftiger, überlauter Bienen der nächste Motorenwirbel größerer Flugzeuge.
»Hörst’ es, wie schnell die näher kommen!«, so Papa, »das sind Jäger, wendige kleine Flugzeuge, die auch Luftkämpfe austragen, wenn der Gegner – also wir – zur Sicherheit Jagdflugzeuge ausschickt. Die attackieren dann auch die dritte Welle der Amerikaner, die Wien angreift – die Bomber …« Und da höre ich schon das dicke Brummen der schweren Bomber, voll beladen mit den Bomben, von denen gar zu viele auf Wien fallen sollten.
»Papa?«, frag ich, »sind die weit weg?«, weil das Bomber-Geräusch immer leiser wird.
»Ja, richtig«, sagt Papa, »ich nehme an, dass sie im Moment keine Bomben auf die Stadt werfen wollen – von der eingeschlagenen Richtung her fliegen sie nach Aspern. Da gibt es einen Militärflughafen, und den will man mit Sicherheit so treffen, dass er nicht mehr funktionsfähig ist. Bei uns wird nichts mehr sein – gehen wir nach Hause.
Herrlich – ich darf den restlichen Weg wieder auf seine Schultern, weil ich schon rechtschaffen müde bin.
Daheim gibt’s noch einen Disput, weil ich natürlich schon bei den ersten Schritten in die Wohnung brühwarm erzähle, was ich im Hauseingang auf der Wiedner Hauptstraße erlebt habe. Aber Papa erklärt dann auch Mama, was los war, und dass er uns nicht gefährdet hatte.
Im Keller
Ich erinnere mich auch, wie es im Keller zuging, wenn die Bomber kamen.
Einmal, als alle Hausparteien voll Angst in den Augen im Keller sitzen, auf mitgebrachten Klappstühlen, Stockerln, an die Ziegelmauer gelehnt, wartend und betend, dass dieser Bombenangriff nicht uns treffen sollte, beben die Kellermauern plötzlich doch, ein gigantisches Krachen lässt den letzten Verputz von den Wänden rieseln – die bange Frage in aller Mienen: Bricht das Gebäude über uns zusammen? Fällt noch eine Bombe direkt auf unser Haus? Direkt auf uns?
Ein Malermeister, ein älterer, immer freundlicher Herr, lehnt über mir und meiner Mutter, die wir auch auf einem alten Stuhl an der Kellerwand sitzen, schirmt uns faktisch mit seinem Körper von herabfallenden Mauerteilen ab.
Er beugt sich über uns: »Wenn’s da reinbomben, solln’s mich nehmen, i bin eh schon a alter Mann.« Später wird der Vater meines damals sehr großen älteren Freundes Louis (Mutti ersuchte ihn oft, auf mich aufzupassen, wenn sie außer Haus etwas zu tun hatte – Nähen, Einkaufen etc.), von zwei Männern in langen, dunkelgrauen, lederglänzenden Mäntel abgeholt – und ward nie wieder gesehen. Auch Louis hat nie erfahren, warum sein Vater – offensichtlich vom Geheimdienst, der Gestapo – abgeholt wurde, noch wo er verblieben ist.
Treffe Louis Jahre später im Rapid-VIP-Klub, wir fallen einander um den Hals – wir sind noch davongekommen, damals …
Unheimlich auch ein Erlebnis in einem der öffentlichen, recht sicheren Bunker, die zum Schutz der Bevölkerung gebaut worden waren:
Es hatte im Rundfunk eine Vorauswarnung gegeben, dass in ca. eineinhalb Stunden ein schwerer Bombenangriff auf Wien erfolgen würde. Mama, mich und Oma am Arm packend: »Wir gehen in den Haydn-Bunker am Gürtel, da müssten wir sicherer sein als hier im Hauskeller. Los! Schnell, bevor es losgeht!«
Eine halbe Stunde später sitzen wir bei fahlgrünem Licht im Bunker, der unter dem Haydn-Park-Sportplatz errichtet worden ist.
Plötzlich ein ungeheurer Schlag, ein Rütteln und Schütteln an der Decke des Bunkers, das Licht beginnt zu flackern – dann wird es ganz finster. Für Sekunden ist es still wie in einem Grab. Es ist lähmend, und das körperlich spürbar … dann laute Schreie im Bunker, ein Mann ruft: »Ist jemand verletzt? Keine Panik! Es ist alles in Ordnung!«
Wir haben Glück gehabt. Ein Jagdflugzeug wurde abgeschossen, fiel genau auf den Sportplatz, auf den Bunker darunter, doch die Decke hatte glücklicherweise dem Aufprall standgehalten.
Noch heute habe ich ein ungutes Gefühl, wenn ich einen Keller betrete – dann beginnt es wieder zu »flackern«!
Da legst di ins Wassa
Eine Geschichte erzählte meine Mutter, als ich sie über meinen Vater, den ich ja kaum gesehen hatte, ausfragte.
»Dein Vater war nicht nur Soldat in der deutschen Wehrmacht, sondern auch Springreiter«, so meine Mutter, leise lächelnd, »er ritt Turniere, und als wir uns kennenlernten, hat er mir so viel von seinen Pferden und vom Springreiten erzählt, dass ich neugierig wurde und ihn gern auf einem Pferd springen gesehen hätte. Als ich ihn fragte, wo er wohl hoch zu Ross zu sehen sei, schlug er gleich einen Treffpunkt vor – im Prater, beim Café neben der Jesuitenwiese, könne er vorbeikommen, auf seinem Lieblingspferd, einer weißen Stute …« – »Sehr brav, ruhig, aber schnell zwischen den Hindernissen, kein Problempferd«, wie er Mutter erklärte.
Da saß also Mama auf der Terrasse des Cafés, dem Constantinhügel, blickte über den Teich und zum Wald hin – und da kam der stolze Reiter – mein Vater …
Mama: »Er ist nicht den Waldweg am Ufer zu mir geritten – er wollte, glaub ich, angeben, mir zeigen, wie gut Pferd und Reiter waren, ist also durch den ziemlich flachen Teich auf mich zugeritten. Doch mitten im Teich hat sich sein Pferd einfach niedergelegt und im Wasser gewälzt, fast wäre er unter die Stute geraten – er musste abspringen und mit seinen schönen Reiterstiefeln ins Wasser steigen und dann wieder aufsitzen. Aber das hat ein bisschen gedauert. Und das vor allen Leuten auf der Kaffeehaus-Terrasse. Aber er hat’s gut überspielt, und ich hab mich erst zu lachen getraut, als er daheim die Stiefel auszog und das Wasser nur so herauslief. Was mir gefiel: Er hat dann mitgelacht …«
Noch eines – für mich immer ein wirklich ungutes Gefühl hervorrufend: die Besuche des »Vertrauensmannes« des Hauses Siebenbrunnenfeldgasse 16 (einer, an den sich Mieter voll Vertrauen mit ihren Sorgen im Krieg wenden sollten):
»Der ist