Ich wusste genau – mit dem technischen Rückstand, bedingt durch unsere Evakuierung, würde ich nur im Notstand »gewählt« werden –, wenn die Anzahl der Spielenden ungerade war, oder wenn’s zu wenige waren, aber für den »Normalfall« würde ich »Spitzkicker« zusehen.
Als ich nachdachte, ob ich wohl einen Weg finden könnte, um sicher »gewählt« zu werden – denn mich technisch zu verbessern brauchte Zeit, das war mir klar –, da fiel mir Onkel Müller ein – der konnte alles beschaffen, was wichtig war.
Ungeduldig wartete ich auf seinen nächsten Besuch.
Als er sich setzte, um den Kaffee zu trinken, den Mutti auf den Tisch gestellt hatte, stand ich schon vor ihm und versuchte ihm klarzumachen, was das passendste Geschenk für mich beim nächsten Anlass wäre: ein Lederfußball – ein richtiger Fußball, mit Lederhülle und Naht über einer Gummiblase.
Langer Rede kurzer Sinn: Ich bearbeitete Onkel Müller so lange, bis ich schon nach 14 Tagen (ohne einen besonderen Anlass) einen Lederball bekam.
Jetzt gab’s kein Halten mehr – in der Schule ging’s mir ausgezeichnet (lauter Einser), ich war in die Volksschule Einsiedlergasse gekommen, fünf Minuten von daheim (die zweieinhalb Kilometer von Lengau gingen mir fast ab) …
Was mich schockte war, wie der Herr Lehrer Weidinger Kopfnüsse austeilte und uns an den kurzen Haaren hinter den Ohren zog, wenn er mit irgendetwas nicht einverstanden war. Bei mir war’s die »äußere Form«, die er beanstandete. Ich hatte wirklich eine »Kraxn« – und habe sie heute noch. Ich glaub, der Weidinger hätte die Härte gehabt, mich zu einer sauberen Handschrift zu »ziehen« und zu »nussen«, aber er ging in Pension, und ein junger Lehrer, Herr Schuberth, übernahm die Klasse. Dem war nur der Inhalt wichtig (der stimmte bei mir fast immer), und so habe ich bis heute keine schöne Handschrift. Was in meinem späteren Berufsleben oft so weit ausartete, dass ich meine eigenen Notizen nicht entziffern konnte.
Wichtig war mir, dass ich mich beim Fußball schön langsam hinaufarbeitete und nicht mehr auf die Hilfe meines Lederfußballs angewiesen war.
Ich hatte einen älteren Freund gefunden (er war 13/14 Jahre alt, ich um die zehn) – er wurde »Burli« gerufen, mehr weiß ich nicht von ihm. Einmal, als er sich über einen Fehler von mir ärgerte, weil er zu einem Verlusttor geführt hatte, hielt er mich nach dem Match zurück und pfauchte: »Damit dir das nicht noch einmal passiert, wir machen jeden Tag eine Extrastunde Technik!«, und wirklich: Er stellte sich hin und nahm mit mir alle technischen Grundbegriffe im Fußball durch: Ballannahme, stoppen, passen, links und rechts, mit der Brust den Ball annehmen, mit dem Oberschenkel, mit dem Rist, dem Innen-Rist, oder »englisch«, wie »Burli« sagte, mit dem Außen-Rist …
Ich träumte schon davon, all diese Dinge auch in die Matches einfließen zu lassen, und mit der Zeit wurde auch alles besser. Die Buben rund um Burli fragten mich sogar, ob ich in einer richtigen Klubmannschaft spielen wolle – bei Rudolfshügel in der Wiener Liga in der Schülermannschaft.
Ich wollte – ging auch mit zum Training, aber dann kam etwas dazwischen.
Mittlerweile hatte ich die Volksschule mit einem Vorzugszeugnis beendet und kam automatisch in die Hauptschule in der Emblgasse in den A-Zug.
Prantl – mein Förderer
Diese Schule und mein Klassenvorstand sollten Glücksbringer für mich sein. Schulisch zehrte ich noch immer von meiner Volksschulzeit in Lengau, wo ich aufgeschnappt hatte, was nur ging. Ich war einfach neugierig, wie etwas funktionierte, noch neugieriger aber bei humanistischen Fächern – Geografie, Deutsch, Geschichte. Bedingt auch durch meine »Topf-Lesezeiten« wusste ich vieles, was die Lehrer fragten – ich konnte, wenn Fragen gestellt wurden, fast immer aufzeigen –, das fiel vor allem meinem Klassenvorstand, Fachlehrer Prantl, auf. Er war ein feingliedriger, älterer, grau melierter Herr mit leicht gebückter Haltung, mittelgroß – und unterrichtete Mathematik und Zeichnen.
Ihn mochte ich, und so passte ich auch in Mathematik sehr auf, obwohl die Rechnerei für mich ein Alptraum war.
Prantl war auch Restaurator im Kunsthistorischen Museum und hatte nach dem Krieg dort selbstverständlich viel zu tun. Auf einer Exkursion zeigte er uns einige seine Arbeiten an alten Gemälden – ich war fasziniert von seiner Ruhe beim Malen, seiner Kunstfertigkeit mit dem Pinsel, und wie er seine Farben zusammenmixte. Ich bewunderte ihn.
Ich bewunderte ihn so, dass ich das »P« seiner Unterschrift (ein weit geschwungenes »P«) in meine Unterschrift »einbaute« und das »E« ebenfalls machte wie er.
Bei Prantl, mit seiner inneren Festigkeit, seiner Ausgeglichenheit, war immer Ruhe in der Klasse – er hatte so viel Ausstrahlung, Persönlichkeit, dass die Rasselbande der Klasse nicht einmal auf die Idee kam, undiszipliniert zu sein – also etwa zu schwätzen.
Ich lernte bei ihm gerne – und eines Tages, gegen Ende des dritten Schuljahres, sagte er mir, meine Mutter möge doch zu ihm kommen.
Prantl empfahl meiner Mutter, mich aufs Gymnasium zu schicken. Mama darauf: »Aber Herr Fachlehrer, das können wir uns nicht leisten – die Bücher, Hefte, Schreibzeug, Atlas, das überschreitet meine Möglichkeiten.«
Prantl, ganz ruhig: »Keine Angst – da werden wir einen Weg finden!«
So also ging Mama mit mir in die Reinprechtsdorfer Straße ins Real-Gymnasium zu Direktor Zwerenz, um mich anzumelden und zu fragen, wann die Aufnahmsprüfung stattfinden könnte. Das Gymnasium war nur einen Häuserblock von unserer Wohnung entfernt. (Mama hatte, um die doch schön langsam wirklich alt werdende Omi betreuen zu können, unsere zwei kleinen Wohnungen gegen eine etwas geräumigere und größere Gemeindewohnung mit Vorzimmer, WC, Küche, Wohnzimmer und Kabinett in der Fendigasse 21 eingetauscht)
Wir waren keine zehn Minuten bei ihm, da war ich aufgenommen, ohne Aufnahmsprüfung, für die vierte Klasse Unterstufe. »Weil die Zeugnisse so hervorragend sind«, so Direktor Zwerenz.
Ich machte also einen »Transfer« von der dritten Hauptschulklasse in die vierte Gymnasium. Ich wurde der 4A zugeteilt, einer »gemischten« Klasse, Mädchen und Burschen in einer Klasse – das war Neuland für mich.
Akkordeon: Der Weg zur Musik
In den drei Jahren Hauptschule war Prantl meine Musikalität aufgefallen – er musste dies auch Direktor Zwerenz mitgeteilt haben, denn beide drängten meine Mutter, mich ein Instrument lernen zu lassen, am besten Klavier, aber dafür war nun wirklich kein Geld vorhanden, und in unsere Gemeindewohnung wäre nicht einmal ein Pianino hineingegangen.
»Ein Akkordeon geht sich mit Mühe aus«, wusste Mama, »da kannst du später leichter umsteigen, wenn wir uns vielleicht einmal ein Klavier leisten können …«
Und so kaufte mir Mama mit hart »nebenbei« erarbeitetem Geld ein Akkordeon mit fünf Registern. Es war eine »Regent«, ein englisches Instrument, eine deutsche »Hohner« hätte fast doppelt so viel gekostet.
Die Musikalität hab ich offenbar von meiner Mutter. Mutti hatte als Kind Hausmusik gemacht (das kommt leider immer mehr ab), ohne Instrumente, dafür wurde viel gesungen, zweistimmig mit dem Bruder oder Oma und mit Freundinnen; Wander- und Volkslieder bei Ausflügen, Wiener Lieder und gängige Schlager. Etwa: »Liebe kleine Schaffnerin …«, dann »Mei Muatterl war a Weanerin« (Lieblingslied meiner Mutter), weiters »Amoi möchte i no ois Büaberl Balln schupfen« oder »Und mei Vater war a Hausherr und a Seidenfabrikant«.
Dann die Volks- und Wanderlieder, wie »Hoch auf dem gelben Wagen« und, was mir sehr gefiel: »Kein schöner Land in dieser Zeit«.
Aber Mutti sah auch darauf, dass die Klassik nicht zu kurz kam. »Am Brunnen vor dem Tore«, also Franz Schuberts »Lindenbaum«, schwebte bei uns ebenso