Das Mädchen schien auf diese Worte der alten Zuchthäuslerin nicht sonderlich stolz zu sein, denn sie ließ den Kopf tief auf die Brust sinken.
Während nun die drei bei ihrer Mahlzeit saßen, trat eine neue Person herein: ein Mann von mittlerem Alter, gewandt und kräftig, in Jacke und Mütze, der an das Leben in Kaschemmen gewöhnt zu sein schien, verlangte er doch in der Gaunersprache, die hier nur üblich war, sein Abendessen. Obgleich er kein Stammgast war, fand er bald keine Obacht mehr, denn Banditen erkennen ihresgleichen ebenso scharf wie ehrliche Leute und wissen vielleicht genauer noch als diese, was sie von jedem einzelnen der ihrigen zu halten haben. Er hatte sich so gesetzt, daß er die beiden Männer von polizeiwidrigem Aussehen, von denen der eine nach Bakel gefragt hatte, scharf ins Auge fassen konnte, ohne daß einer von ihnen es gewahr werden konnte. Bald war die auf einen Moment unterbrochene Unterhaltung wieder im Gange. Schuri zeigte trotz seiner Verwegenheit eine gewisse Unterwürfigkeit gegen Rudolf und getraute sich nicht mehr, ihn zu duzen. So wenig Respekt er vor Recht und Gesetz hatte, so viel Respekt hatte er vor Leibeskraft.
»Ein Wort, ein Mann,« sagte er zu Rudolf, »erzählen wir uns, wer wir sind, damit wir bekannt zusammen werden.« – »Mach du den Anfang,« versetzte Rudolf. – »Albino von Farbe, entlassener Bagnosträfling, Holzflösser am Kai, im Winter vor Kälte halbtot, im Sommer vor Hitze gedörrt, so ist mein Charakter,« sagte der Bandit; »wer aber sind Sie? Ich sehe Sie zum ersten Male in unserem Alt-Paris.« – »Ich bin Fächermaler und heiße Rudolf.« – »So? Fächermaler? Nun, deshalb haben Sie so weiße Hände! Scheint auch zu dem Geschäft ein gutes Teil von Leibeskraft zu gehören, vorausgesetzt daß Ihre Kameraden ebenso sind wie Sie! Warum kommen Sie aber in eine Kaschemme, wenn Sie Arbeiter sind, und zweifelsohne ehrlicher Arbeiter? Hier gibt es doch bloß Kerle aus dem Bagno, die sich anderwärts im Lande nicht sehen lassen dürfen.« – Ich komme her, weil mir an guter Gesellschaft gelegen ist.« – »Hm,« sagte der Bandit, zweifelsvoll den Kopf schüttelnd, »Sie scheinen mir nicht zu trauen und haben wohl auch nicht so unrecht. Indessen erzähle ich gern, wenns Ihnen recht ist, meine ganze Geschichte. Aber eine Bedingung stelle ich dabei: daß Sie mich über die Stöße unterrichten, mit denen Sie mich traktiert haben.« – »Warum nicht? Wenn Ihr weiter nichts wollt? Erzählt also, und dann mag mir das Mädchen sagen, wie es mit ihr steht.« – »Hab nichts dawider,« versetzte das Mädchen. – »Aber Sie bleiben uns dann Ihre Geschichte nicht schuldig?« fragte der Bandit. –»Nein. Kann ja gleich den Anfang machen,« sagte Rudolf.
»Fächermaler,« sagte das Mädchen, »ein hübsches Geschäft!« – »Wieviel bringts denn ein für den Tag?« fragte Schüri. – Hier bis fünf Franks, doch nur im Sommer, weil da die Tage lang sind. Es gibt nämlich bloß Stücklohn.« – »Sie machen Wohl oft blauen Montag?« – »Ja, so lange mein Geld reicht. Sechs Sous brauche ich für Nachtquartier, vier für Tabak: macht zehn Sous; dann vier Sous für Frühstück und fünfzehn für Mittagbrot, ein paar noch für Schnaps, macht also auf den Tag etwa dreißig Sous. Wer braucht da die ganze Woche zu arbeiten? Da ists doch gescheiter, man läßt sichs die übrige Zeit Wohl sein!« – »Und Ihre Angehörigen?« fragte das Mädchen. – »Die hat die Cholera morbus weggerafft,« versetzte Rudolf. – »Was waren denn Ihre Eltern?« fragte sie weiter. – »Lumpensammler, hatten unter der Halle ihren Stand. Der Vormund verkaufte alles, was da war, und gab mir dreißig Francs als Erlös.« – »Und wer ist Ihr Brotherr?« – »Borel in der Rue des Bourdonnais. Ein Protz und ein Filz, der jeden Arbeiter bis aufs Blut quetscht. Seit meinem fünfzehnten Jahre bin ich bei ihm in der Lehre gewesen. Wohne jetzt in der Rue de la Juiverie, im vierten Stock und heiße Rudolf Durand. Da habt Ihr meine Geschichte,« – »Nun mag die Schalldirne erzählen,« sagte Schuri; »ich warte mit meinem Histörchen bis zuletzt.«
Drittes Kapitel. Was die Sängerin zu erzählen hatte
»Wir fangen von vorne an,« sagte der Schuri: »wer sind deine Eltern?« – »Die hab ich nicht gekannt,« sagte das Mädchen. – »Schnurrig, Mädel. Da sind wir von gleicher Familie!« – »Du bist auch Waise, Schuri?« – »Jawohl, von der Straße, wie du, mein Kind.« – »Und wer hat dich erzogen?« fragte Rudolf. – »Weiß ich nicht. Kann nicht weiter zurückdenken, als bis zu meinem siebenten oder achten Jahre. Da bin ich bei einem alten Weibe gewesen, das die Eule genannt wurde.« – »Oho!« rief der Bandit. – »Ja, für sie mußte ich auf dem Pont-Neuf Gerstenzucker feil halten. Brachte ich weniger als zehn Sous mit heim, bekam ich Prügel und nichts zu essen.« – »Die Frau war nicht deine Mutter? Das weißt du bestimmt?« fragte Rudolf. – »Ganz bestimmt! Hat mir das Weib doch oft genug vorgeworfen, ich hätte weder Vater noch Mutter, sondern sie hätte mich auf der Straße aufgelesen. Frühmorgens mußte ich nach Montfaucon hinaus, Regenwürmer zum Angeln zu suchen, denn tagsüber trieb das Weib unter der Notre-Dame-Brücke einen Handel mit Angelruten.« – »Na, bis Montfaucon ists ein derber Weg, der dir aber recht gut bekommen zu sein scheint. Bist ja gerade gewachsen wie eine Tanne,« sagte der Bandit; »und die schmale Kost scheint dir auch ganz gut bekommen zu sein, denn sie hat dir eine Wespentaille geschaffen. Hast also keine Ursache Zu klagen!« – »Aber es hat Prügel genug gesetzt, und wenn mich das Weib schlug, bin ich immer beim ersten Schlag umgefallen. Dann hat sie mich mit Füßen getreten und geschrien, ich hätte gar keine Bouillon in den Knochen, so rund und fett wie ich sei. Anders als Balg hat sie mich gar nicht gerufen, das war mein Taufname.«
»Na, mir ists ebenso gegangen. Mich hat man nie anders als Hund gerufen! Komisch, Mädel, wie ähnlich die Dinge doch zwischen uns liegen!« – Das Mädchen, das sich vor Rudolf zu schämen schien, rückte näher zu dem Banditen heran, der sie nun fragte, was sie weiter am Tage getrieben, nachdem sie von Montfaucon zurückgekehrt sei. – »Bis gegen Abend mußte ich betteln,« sagte das Mädchen, »und sobald es mir einfiel, etwas Essen zu fordern, bekam ich allemal Prügel, und wenn mich hungerte, schickte sie mich mit einem kleinen Mäßchen voll Gerstenzucker auf den Pont-Neuf. Ob ich dort vor Kälte zitterte wie Espenlaub, das hat sie nie gekümmert.« – »Schon wieder ganz, wie es mir gegangen ist,« sagte der Schuri, »mir ists ebenso gegangen.« – »Dort mußte ich stehen bis gegen elf. Die Passanten haben mir manchmal ein paar Sous in die Hand gedrückt, weil meine Tränen sie rührten. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Prügel. »Wenn ich nicht weinte, war die Alte immer außer sich, und um sie recht zu ärgern, lachte ich dann immer aus vollem Herzen, sobald sie zum Schlage ausholte. Abends habe ich, statt Gerstenzucker zu verkaufen, immer gesungen wie eine Lerche, wenngleich es mir wahrlich nicht nach Singen zumute war.« – »Glaubs dir,« sagte Rudolf. – »Einmal fielen, als ich mit Regenwürmern von Montfaucon heimging, Gassenjungen über mich her und raubten mir mein Körbchen. Was meiner wartete, wußte ich: Prügel, aber nichts zu essen! Da hat mich die Alte nicht geschlagen, sondern mich anders gemißhandelt, mir an den Schläfen die Haare ausgerissen, wo es bekanntlich am meisten schmerzt.« – »Sackerment! Das geht ins Aschgraue!« rief der Bandit, mit der Faust auf den Tisch schlagend und die Brauen finster zusammenziehend. »Ein Kind prügeln, geht schließlich noch an; aber Kinder mißhandeln, das ist wider alle Moral!«
Rudolf hatte dem Mädchen aufmerksam zugehört. Die Teilnahme, die der Bandit für das Mädchen fühlte, setzte ihn in Verwunderung.
»So gings noch ein paar Tage. Da kam ich wieder einmal heim mit nur drei Sous Einnahme. Da schrie die Alte: ich fräße alle Tage für sechs Sous, und es fiele ihr nicht ein, mich umsonst noch länger zu füttern. Es war im Winter, und ich hatte bloß eine dünne Leinwandfahne auf dem Leibe, weder Strümpfe noch ein Hemd, bloß Holzschuhe. Die Alte packte mich bei der Hand. Am meisten erschreckte es mich, daß sie nicht fluchte, sondern auf dem ganzen Wege hin bloß zwischen den Zähnen murmelte. In die Rue Mortellerie ging unser Weg nach einem alten, schmutzigen Hause, das eine Schenke hatte.