Mit den Achseln zuckend, trat der Unbekannte durch die Tür und verschwand hinter dem Banditen und dem Mädchen in der Gaststube.
Zweites Kapitel. Wirtin und Gäste
Die Kaschemme führte das Schild »Zum weißen Kaninchen« und stand mitten in der Rue des Poix. Sie nahm das Erdgeschoß eines hohen Hauses ein, dessen Fassade aus zwei sogenannten Fallbeilfenstern bestand. Ueber der Tür einer dunklen gewölbten Flur stand: »Hier ist Nachtquartier zu haben.« – Die Gaststube ist ein großer, niedriger Saal mit verräucherter Decke und von Qualm und Rauch geschwärzten Balken, der durch das rötliche Licht eines Ueberrestes von Wandleuchter erhellt wird. An jeder Seite der großen Stube steht ein halbes Dutzend Tische, die wie die dazu gehörigen Bänke an der Wand festgemacht sind. Im Hintergrunde führt eine Tür nach der Küche; eine andere kleinere Tür führt rechts vom Schenktische auf den Flur hinaus, über den man gehen muß, um zu den Löchern zu gelangen, in denen es für 3 Sous eine Schütte Stroh statt eines Bettes gibt.
»Mutter Ponisse« heißt die Wirtin dieser Kaschemme. Ihre Geschäfte sind dreifacher Art: sie beherbergt Leute zur Nacht, unterhält einen Ausschank verbunden mit Kneipe und verleiht schmutzige Garderobe an die noch schmutzigeren Geschöpfe, die sich in diesen schmutzigen Gassen wie Schmeißfliegen umhertreiben. Sie zählt 40 Jahre, ist alt, groß, korpulent und hat einen Anflug von Bart. Ihre Stimme hat einen fast männlichen Klang, ist rauh und heiser. Ihre starken Arme und großen Hände weisen auf große Körperstärke. Von reichlichem Schnapsgenuß hat ihr Gesicht eine Kupferfarbe bekommen.
Auf dem Schenktische stehen allerhand Zinnmaße und Krüge, um die eiserne Reifen gelegt sind. Auf einem Wandbrette stehen allerhand Gläser, die allerhand Liköre enthalten: solche von grünlicher und solche von rötlicher, auch ein paar von goldgelber Farbe.
Neben der Wirtin hockt eine große, schwarze Katze mit gelben Augen, die der Hausteufel der Kaschemme zu sein scheint. Hinter dem Gehäuse einer altertümlichen Wanduhr hängt ein Zweiglein geweihten Osterbuchsbaums, dessen Anwesenheit sich nur erklären läßt, wenn man den Satz gelten läßt, daß das menschliche Gemüt ein unergründlicher Abgrund von Widersprüchen ist.
Zwei Kerle von polizeiwidrigem Aussehen, mit struppigem Barte, kaum mit Lumpen bedeckt, sitzen an einem Tische bei einem Weinkruge, trinken aber kaum einmal, sondern sind in reger, wenn auch leiser Unterhaltung begriffen. Der eine hat eine bleiche, fast bleifarbene Haut. Das Gesicht wird von einer schäbigen griechischen Mütze fast bis zu den Brauen bedeckt. Sein linke Hand hält er fast immer unter dem Tische und läßt, wenn er sich ihrer einmal bedienen muß, so wenig wie möglich davon sehen.
Ein Stück weiter vom Tische entfernt sitzt ein junger Mensch von knapp 16 Jahren mit bartlosem, ebenfalls bleichem Gesicht und mattem Blicke. Um den Hals herum hängt ihm langes, schwarzes Haar. Dieses Musterexemplar frühzeitigen Lasters raucht aus einer kurzen Tonpfeife und trinkt aus einem kleinen Kruge elenden Fusel.
Von den übrigen Gästen läßt sich weiter nichts Besonderes sagen; es sind Männer und Weiber, aber die ersten sind in der Ueberzahl. Sie sehen alle roh und tierisch aus, lärmen und schreien, reißen Zoten und sitzen, wenn sie sich ausgetobt haben, in dumpfem Schweigen beisammen.
Zu diesen Gästen gesellten sich unser Unbekannter, der Bandit und die Dirne. Jetzt können wir uns den Schuri genau ansehen: er ist, wie gesagt, ein Hüne von kolossalen Körperverhältnissen, mit aschblondem, fast weißlichem Haar, dichtverwachsenen Brauen und feuerrotem Backenbart von erstaunlicher Länge. Sonnenbrand, Elend und harte Arbeit im Bagno haben ihm die fast allen Galeerensträflingen eigentümliche Bronzefarbe gegeben. Sein Gesichtsausdruck verrät mehr brutale Verwegenheit als wilde Notzeit; wer aber seinen Hinterschädel aufmerksam betrachtet, findet dort die Kennzeichen für Mordsucht stark ausgeprägt.
In seltsamer Anomalie zeigen die Gesichtszüge der Schalldirne einen madonnenhaften Ausdruck, wie er zuweilen auch bei tiefster Verworfenheit erhalten bleibt. Die Dirne steht im 17. Jahre. Ihr Gesicht ist oval geschnitten, die großen blauen Augen werden von langen Wimpern beschattet; auf den runden roten Wangen liegt noch der erste Jugendglanz; ihr kleiner purpurroter Mund und herrliches Blondhaar, ihre feine gerade Nase und ein allerliebstes Grübchenkinn machen es erklärlich, daß die Dirne fast alle Männer dieser verbrecherischen Welt bezaubert, hat doch schon ihre Stimme allein durch ihren reinen harmonischen Klang den unbekannten Mann in Fesseln geschlagen. Sie sang vortrefflich, und dieses Talent hatte ihr in der Kaschemme den Rufnamen der Schalldirne eingetragen, der im Rotwelsch soviel wie Primadonna bedeutet. Neben ihm führte sie auch noch den Namen »Marienblümchen«, der im Rotwelsch beliebten Umschreibung für Jungfrau.
Ihr Beschützer, ein Mann von höchstens 30 Jahren, den wir mit dem Namen Rudolf benennen wollen, war von Mittelgröße. Sein schlanker, wohlproportionierter Körper verriet nicht im geringsten jene erstaunliche Kraft, die er im Kampf mit dem Banditen an den Tag gelegt hatte. Sein Gesicht war regelmäßig und schön, für einen Mann vielleicht zu schön. Sein Teint von zartem Weiß, seine halbgeschlossenen Augen, seine ungezwungene Haltung, sein sarkastisches Lächeln ließ einen blasierten Menschen vermuten, dessen Konstitution durch übermäßigen Lebensgenuß wenn auch nicht zerrüttet, so doch geschwächt ist. Und doch hatte Rudolf mit seiner schmächtigen, zierlichen Hand einen der verwegensten und stärksten Banditen von Paris bezwungen. Sein Blick verriet hin und wieder einen Hang zur Melancholie, und sein Gesicht rührendes Mitleid. Wenn aber sein Blick, was fast häufiger der Fall war, einen harten, boshaften Ausdruck annahm, dann machte auch der mitleidige Zug einem grausamen Platz, der jede gefühlvolle Regung auszuschalten schien.
In dem Kampfe mit dem Banditen hatte Rudolf keine Spur von, Zorn oder Haß gegen den ihm nicht gewachsenen Gegner gezeigt, sondern war ihm im Vertrauen auf seine Kraft, Gewandtheit und Gelenkigkeit nur mit Verachtung entgegengetreten. Im übrigen bekam Rudolf durch sein Benehmen und seine Gewandtheit, mit der er die Gaunersprache redete, eine vollständige Aehnlichkeit mit den Gästen der Wirtin. Um den schlanken Hals hatte er ein schwarzes Tuch geschlungen, dessen Enden auf den Kragen seiner verblichenen Bluse fielen. Die plumpen Schuhe, in denen seine Füße steckten, waren mit einer doppelten Reihe von Nägeln beschlagen, und außer seinen schönen Händen unterschied ihn kaum ein einziger Zug von den in der Kaschemme sitzenden Gästen.
Beim Eintritt legte der Bandit Rudolf eine seiner großen Hände auf die Achsel und sagte: »Es lebe der Mann, der den Schuri bezwungen! Jawohl, Kameraden, bezwungen! Und selbst Meister Bakel wird seinen Meister in ihm finden. Dafür stehe ich ein.«
Bei diesen Worten richteten sich aller Blicke, von der Wirtin bis zu dem geringsten Gaste hinunter, auf Rudolf, und zwar mit einem deutlich sichtbaren Zeichen von Angst und Sorge. Ein paar zogen Gläser und Krüge an den Tischrand zurück, um Rudolf Platz zu machen; andere traten zu dem Banditen, um sich mit leiser Stimme über den Unbekannten zu unterrichten, der sich auf so gloriose Weise in ihren Kreisen eingeführt hatte. Die Wirtin hatte den neuen Gast inzwischen mit ihrem holdseligsten Lächeln bewillkommt. Was noch nie im »Weißen Kaninchen« passiert war, sie war aufgestanden und hatte sich bei Rudolf erkundigt, womit sie ihm dienen könne. Einer der beiden Männer polizeiwidrigen Aussehens, von dem wir bereits sagten, daß er die linke Hand versteckt hielt, fragte die Wirtin, die für Rudolf den Tisch abwischte: »Ist Bakel noch nicht dagewesen?« – »Nein,« versetzte die Wirtin, »aber gestern ist er mit seiner neuen Gesponsin dagewesen.« – »Wer ist das?« – »Hältst du mich etwa für einen Spitzel? Soll ich gar meine Kunden verpetzen?« erwiderte die Wirtin rauh und ablehnend. – »Ich werde heute abend,« sagte der Räuber, »mit ihm zusammenkommen. Wir haben Geschäfte miteinander.« – – »Wird was Schönes sein, du Sündensohn!« – »Oho! Wovon lebt Ihr denn als von uns Sündensöhnen?«
Marienblümchen hatte dem jungen Menschen mit dem bleichen Gesicht, als sie in die Kaschemme