Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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mehr sehnen, er verspricht endlich Ordnung und damit Überschaubarkeit.“

      „Das klang ja vorhin schon bei Herkommer an, als er meinte, Demokratie sei immer auch Unordnung und Durcheinander oder so ähnlich.“

      „Und außerdem, nicht zu vergessen, verfügt Hitler wahrscheinlich über nicht unerhebliche finanzielle Mittel aus der Schwerindustrie und auch aus der chemischen Industrie. Ich vermute das, weil sein Büro über einen Mittelsmann auch bei uns hat vorfühlen lassen. Wir haben natürlich abgewinkt, aber dabei wurde mit einigen klangvollen Spendernamen geprahlt, bei denen ich zwar meine Zweifel habe, die aber selbst dann, wenn sie nicht alle zutreffen, doch einigermaßen beunruhigend sind.“

      „Aus der Schwerindustrie?“, wunderte sich Strauss, „tatsächlich?“

      „Ich war auch mehr als überrascht. Wie konnte Hitler überhaupt an die maßgebenden Personen herankommen? Doch alles andere als ein Herr! Im Krieg hat er es bis zum Gefreiten gebracht, na ja. Der kann sich doch in diesen Kreisen überhaupt nicht bewegen!“

      „Schon wie er eine Teetasse hält“, amüsierte sich Strauss, „da spreizt er den kerzengerade ausgestreckten kleinen Finger ab, in der Berliner Illustrirten habe ich gerade ein Bild gesehen.“

      „Habe ich auch gesehen. Etwas Ähnliches sieht man zwar auch in England in gewissen Kreisen, aber nicht so extrem abgespreizt freilich, aber du hast schon recht, er kommt aus einer ganz kleinen Kiste! Hitler ist ungebildet und –“

      „Ich würde sagen, Zabener, er ist der klassische Halbgebildete.“

      „– was noch schlimmer ist!“, bellte Zabener plötzlich. „Und nicht nur von geringer Herkunft, sondern auch mit ziemlich trüben Stellen in seinem Lebenslauf. Ich kann mir nicht denken, dass die Deutschen je einen solchen Mann an die Spitze stellen wollen. Deutschland ist noch immer ein Klassenstaat, Strauss, und noch nie ist ein Mann geringen Standes in ein hohes Staatsamt aufgestiegen. Denke doch nur an Bismarck oder noch früher an den Freiherrn vom Stein. Oder an Bethmann Hollweg oder Bülow. Man mag zu ihnen stehen, wie man will – es waren Herren!“

      „Und wie ist das mit Ebert? Der stammte aus kleinen Verhältnissen“, warf Strauss ein.

      „Das war ein Sonderfall, er ist in den Wirren des Kriegsendes zum Kanzler ernannt worden, wie übrigens alle seine Vorgänger auch ernannt worden sind, er war der Vorsitzende der damals größten Partei; zum Reichspräsidenten allerdings wurde er dann gewählt. Im Übrigen, der Mann hat große Verdienste. Und er hatte Anstand!“

      „Oh ja, das ist mir bekannt, Zabener. Er hat auf seine manchmal etwas unbesonnene Partei über viele Jahre hinweg einen äußerst günstigen Einfluss genommen.“

      „Diesem Hitler seine Partei dagegen ist ein wilder Proletenhaufen, Strauss, mit vielen verkrachten Existenzen darunter. Schon diese grauenhaften Klamotten in diesem scheußlichen Braun, SA-Uniform nennen sie das. Hast du schon einmal eine Uniform gesehen ohne Rock? Ich nicht! Die laufen doch buchstäblich im Hemd herum, übrigens auch Hitler selbst.“

      „Na ja, Zabener, das muss halt alles billig sein, die Kerle müssen das aus eigener Tasche bezahlen!“

      „Und hast du gesehen, Strauss, die Anführer mit ihren meistens viel zu kurz gebundenen Krawatten, hahaha. Das sieht vielleicht aus!“

      „Und erst recht dieser alberne Hitlergruß, Zabener! Meine englischen Freunde haben nur geschmunzelt und meinten, das sehe ja aus wie Freiübungen; ‚free-standing exercises‘ haben sie gespottet. Glauben die Hitlerleute denn im Ernst, dass man eine solche Marotte gegen eine jahrhundertealte Kultur des Grüßens und Sich-Begrüßens einfach so anordnen könnte? So einfach par ordre du mufti? So etwas wird sich niemals durchsetzen lassen, Zabener. Niemals!“

      „Höchstens bei diesen Proleten, die ohnehin nie gelernt haben, richtig zu grüßen!“

      „Wenn ich dagegen bedenke, welch vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten ohne jedes Überlegen mir zur Verfügung stehen, wenn ich meinen Hut lüfte! Ein kultivierter Mensch wird das doch niemals preisgeben. Ich hatte schon beim militärischen Gruß, obwohl mir der nie lästig geworden ist, hin und wieder gespürt, dass ich da im Korsett einer ganz automatischen Bewegung steckte mit nur geringen Spielräumen für eine Abstufung.“ –

      Erst nach Mitternacht, nach stundenlangem Diskutieren und ernsten Gesprächen über Gott und die Welt, mit viel freundschaftlichen Streitereien und immer wieder sich einstellendem Einvernehmen, trennten sie sich wohlgelaunt. Dr. Strauss hatte Lydia, die nach dem Essen immer wieder einmal hereingeschaut hatte, um mit einer Stimme, die von Mal zu Mal leiser wurde, zu fragen, ob noch etwas gewünscht würde, längst zu Bett geschickt.

      Strauss begleitete Zabener noch bis zum schmiedeisernen Gartentor. Dabei war er zu seinem Schrecken im Halbdunkel unter dem lauten Gelächter des Konsuls in ein weiches Beet getreten. Sie plauderten am Tor noch eine Weile, scherzten und lachten und schüttelten sich dann lange die Hände, glücklich über so viel Übereinstimmung, und versprachen einander, bis zu ihrem nächsten Treffen nicht wieder so viel Zeit verstreichen zu lassen. Strauss machte noch ein paar gutmütige Späßchen mit jüdischen Redensarten, und Zabener fiel mit den Worten ein:

      „Ein wunderbares Abendessen, Strauss, – und längst nicht so fett wie sonst in jüdischen Häusern.“

      Beide freuten sich, wie unbefangen sie mit dem heiklen Thema umgehen konnten, und Strauss fuhr fort:

      „Und erst dieser erlesene 21er Siran Margaux, Zabener, den du mir mitgebracht hast! Natürlich –“, und an dieser Stelle setzte er sein Lob per Sie fort, und seine Stimme bekam etwas übertrieben Beschwichtigendes, „natürlich weit über Ihre Verhältnisse!“

      Sie lachten, wie man nur lachen kann, wenn man sich gemeinsam in eine so richtige Lachstimmung gebracht hat, und kein Außenstehender mehr den Grund für solche Heiterkeit hätte begreifen können. –

      10_Ludwigs erste Stelle

      In Nürnberg angekommen, wollte Ludwig Herkommer, der mit seinem Geld ziemlich am Ende war, in einem großen Kaufhaus, das an seinem Weg lag, schauen, ob günstig an etwas Essbares heranzukommen sei. Vor dem Eingang wartete angeleint ein Schäferhund, etwas dunkler als seine beiden Alsatians zu Hause und gut gepflegt, wie Ludwig sogleich sah. Als er nach über einer Stunde wieder herauskam – er hatte nach einem langen Rundgang durch das ganze Haus in der Lebensmittelabteilung höflich gefragt, ob er eine zerbrochene Brezel, die er entdeckt hatte, vielleicht verbilligt haben könnte und bekam sie dann gratis und noch einen aufgerissenen Brotlaib mit dazu –, da saß der Hund immer noch da. Jetzt, da er nicht mehr so hungrig war, erkannte er schon nach kurzem Hinsehen die perfekte Ausbildung. Der Hund blickte aufmerksam mal zum Eingang, dann wieder zur Straße, aber gelassen, ohne die geringste Unruhe; die Länge der Leine ließ er ungenutzt. Oh, wenn man sonst vor den Geschäften diese armen Tröpfe jaulend und verzweifelt an ihren Leinen zerren sieht! Wenn ihn Passanten anschauten, blickte er weg, er wünschte keine Ansprache; wandte sich ein Passant ihm direkt zu und näherte sich ihm dabei allzu sehr oder versuchte er in einfältiger Freundlichkeit gar, ihn zu streicheln oder zu tätscheln, so knurrte er anhaltend, nicht laut, aber unüberhörbar.

      Plötzlich sah er aufmerksam zu Ludwig her, unbewegt, doch interessiert, und nicht nur für einen Augenblick, und Ludwig schaute ebenso ruhig zu ihm zurück. Er hatte das Gefühl, dass nach den langen Tagen des Alleinseins plötzlich wieder jemand da war, der ihm nicht so grenzenlos fremd war wie all die Menschen seit seiner heimlichen Abreise von daheim. Seiner Mutter hätte er doch noch ein paar Zeilen zum Abschied schreiben sollen, und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauche um ihn. Er hatte es ja auch versucht, aber der Zettel las sich dann so ungeschickt und hilflos, was gar nicht seiner Stimmung entsprach – er, der jetzt hinausstürmen wollte in die Welt.

      Ludwig ging langsam auf das Tier zu, er hätte schwören mögen, dass dabei Freude in den Augen des Hundes stand, und je näher er ihm kam, umso mehr hob der Hund, der ihn weiter unvermittelt anblickte, seinen Kopf, und Ludwig wusste im gleichen Augenblick, dass er ihm jetzt, da er direkt vor ihm stand, über den