Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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wissen wir Bescheid. Am besten, du kommst morgen wieder, zum Mittagessen in der Kantine. Ja, und der Gaski? Was machen wir mit dem? Am besten, du nimmst ihn mit, da ist er am besten aufgehoben, und ich hab’ ihn nicht am Bein.“

      „Ich werde mit ihm etwas arbeiten! Das tut ihm gut. Mit dem ist in letzter Zeit nicht genügend gemacht worden!“, stellte Herkommer fest und wusste jetzt auch, warum Gaski so rasch, eigentlich schon vor dem Kaufhaus, zu ihm übergelaufen ist – sein Herr war nicht sein Herr gewesen. Aber während er noch darüber nachdachte, kam ihm in den Sinn, dass bei der Quartiersuche, die jetzt anstand, Gaski gewiss hinderlich sein würde – nun, er würde die Suche eben mit ein paar strengen Warteübungen für Gaski verbinden. Wenn er erst einmal eine Schlafstelle oder gar ein Zimmer gefunden hätte, würde er danach sicherlich auch den wohlerzogenen Gaski mitbringen können, nein, nicht einfach mitbringen, er würde artig fragen ‚Darf ich Ihnen meinen Mitarbeiter vorstellen, meinen Diensthund Gaski?‘, und von dem wird jede Wirtin, glaubte Ludwig, sofort angetan sein, und wenn er ihr dann noch die Polizeimarke am Halsband zeigen würde, dann wären gewiss auch ihm gegenüber die letzten Zweifel behoben. Nur Gaski gleich bei der ersten Begegnung mitzubringen, das würde schief gehen. Herkommer war schon immer stark darin gewesen, jede neue Situation sofort und als Erstes danach zu beurteilen, was sie an Möglichkeiten enthielt, die für seine Absichten von Vorteil waren oder ihnen eher hinderlich sein könnten.

      Und genau so, wie er sich das vorgestellt hatte – wie er es geplant hatte, wäre zu viel gesagt –, verlief die Quartiersuche dann auch. In dieser eher ärmlichen Vorstadtgegend mit ehemals stattlichen, aber inzwischen heruntergekommenen oder mindestens schon ziemlich abgewohnten Häusern aus dem letzten Jahrhundert waren viele Mieter gezwungen, wenn sie in diesen elenden Zeiten ihre großen Wohnungen halten wollten, eines oder auch mehrere Zimmer möbliert unterzuvermieten oder auch, in den besonders abgewirtschafteten Häusern, eine Anzahl von Schlafstellen anzubieten; auch eine Schlafstelle wäre ihm fürs Erste recht gewesen.

      Schon bei seinem zweiten Versuch hatte er bei einer Frau Bohner, die ganz oben auf seinem Zettel stand, Erfolg. Ein richtiges Zimmer ganz für sich! Ein altmodisches, aber ordentliches Bett, sauber bezogen, ein schwarz gewichster Kanonenofen, ein paar Möbel und auf der Kommode ein Wachstuch als Decke und eine weiße Waschschüssel mit Krug.

      Frau Bohner mochte Anfang oder Mitte dreißig sein und lachte viel. Ludwig hatte sich bis dahin Zimmerwirtinnen alt und griesgrämig vorgestellt. Sie hatte kurzgeschnittene rotbraune Haare, mehr braun als rot, ihr Mann sei im Krieg geblieben, Kinder habe sie leider keine, und deshalb sei die Wohnung eigentlich viel zu groß, sodass sie seit der Inflation ein oder zwei Zimmer vermieten müsse, die Mitbenutzung des Badezimmers sei selbstverständlich, da müsse man sich halt absprechen, und sie sei Fotografin, deshalb wäre das Badezimmer vollständig abzudunkeln, in der Wohnung mache sie aber kaum mehr etwas, und die Entwicklungstanks, die noch im Badezimmer stünden, wolle sie ohnehin demnächst runter in die Waschküche schaffen.

      Frau Bohner wunderte sich über sich selber, wie redselig sie plötzlich gegenüber diesem jungen Mann war. Bei zwei anderen Interessenten gestern, auch ordentliche Leute, war nur das Nötigste gesprochen worden, und es fiel ihr auf, wie sehr sie sich ins Zeug legte, um ausgerechnet diesen unbefangenen Jüngling als Mieter bei sich aufnehmen zu können. Ja, den wollte sie!

      Sie rief sich zur Ordnung, als sie das dachte. Das geht doch nicht, Frau Bohner (so redete sie sich in ihren Selbstgesprächen an, die sie häufig führte, denn sie war schon lange allein), wie sich das anhört! Dieser junge Mann könnte fast dein Sohn sein! –

      Auch als Herkommer gegen Abend mit Gaski und seinem bescheidenen Gepäck, in der Hauptsache einem Rucksack, anrückte, klappte alles wie vorgesehen. Gaski musste geahnt haben, worauf es ankam, und dass jetzt alles von seinem Verhalten abhing, und er zeigte sich von seiner besten Seite, Frau Bohner schmolz dahin. In geschäftlichen Dingen allerdings unerfahren, sah sie nur noch eine Schwierigkeit: Im vorgedruckten Mietvertrag stand, dass der vereinbarte Mietzins zum Monatsbeginn, spätestens am dritten Werktag eines jeden Monats zu entrichten sei, und wenn er nun mitten im Monat einziehe, müsse er die restliche Miete für diesen Monat womöglich sogleich bezahlen – oder nicht? –, und sie sei sich gar nicht sicher, ob es überhaupt erlaubt sei, von diesem gedruckten offiziellen Mietvertrag einfach abzuweichen, sonst könnte er natürlich gern erst am Monatsende zahlen. Herkommer gab offen zu, dass er wahrscheinlich erst morgen von seiner neuen Dienststelle Geld bekomme, mindestens würde er morgen erfahren, wann das sein wird. Frau Bohner schien erleichtert, dass sich da ein Ausweg andeutete.

      Von Eugen Saller erfuhr er am nächsten Tag, dass bei der Behörde Gehälter oder sonstige Bezüge erst am Monatsende ausbezahlt würden, lediglich Beamte und Beamtenanwärter bekämen ihr Gehalt im Voraus, nämlich schon zum Beginn eines jeden Monats. Aber, so fuhr er fort, als er Herkommers besorgtes Gesicht sah:

      „Ich werde dir aushelfen. Hier hast du 20 Mark bis Monatsende.“

      „Soviel brauche ich doch gar nicht. Danke, danke. Die Miete macht doch bloß zwölf Mark im Monat.“

      „Nee nee, lass mal, Ludwig, das geht schon. Ich habe mit der Personalabteilung gesprochen, die Sache klappt. Das rechnen die über Sondereinsätze ab, sonst wären wir ja auch bös aufgeschmissen hier. Die wissen im Moment nur noch nicht, was genau herauskommt, aber schon vor Monatsende etwas auszuzahlen, das ginge nicht. Ich kenne diesen Zeitgenossen dort, ein ausgesprochener Ärmelschoner, aber zuverlässig ist er schon. Ich habe ihm gesagt, er brauche sich nicht überschlagen, ich würde dir mit ein paar Mark aushelfen. Weißt du, was er da gesagt hat? ‚Du bist total verrückt geworden, Saller! Du wirst dein Leben lang immer nur ausgenützt werden.‘ Aber meine Mutter hat immer gesagt, Öschänn, es ist tausendmal besser, ausgenützt zu werden als selber der Ausnützer zu sein. Und bei dir, Ludwig, habe ich überhaupt keine Angst.“

      „Ist ‚Öschänn‘ elsässisch?“, fragte Herkommer.

      „Ja. Ich bin noch gar nicht so lange hier. Drüben gab es für mich wenig Chancen, ich war auch noch furchtbar schüchtern. Ich bin dann bei so einem paramilitärischen Haufen in den Vogesen gelandet als der Jüngste von allen. Ich weiß heute noch nicht so recht, wofür die genau waren und wogegen. Wenn’s kein Geld gab, gab’s kein Geld, c’est tout; und wenn’s Geld gab, hattest du auch keines, denn dann hast du erst mal die Schulden an deine Copains zurückzahlen müssen. Dann lieber bei einer richtigen Organisation sein, so wie hier. Ich bin in Nürnberg ohne weiteres als Deutscher anerkannt worden, weil ich vor dem Krieg geboren bin, 1911 in Niedermorschwihr – das ist ein Nest hinter Colmar, schon in den Bergen gelegen –, da war das Elsass noch deutsch, und drum haben sie mich sogar auf der Polizeischule genommen, als Beamtenanwärter. Wenn es auch für mich anfangs arg hart war, hier ist ja alles anders!“

      Als Ludwig Herkommer am Abend die Treppen zu seinem neuen Zuhause hinaufstürmte, mit Gaski im Gefolge, da freute er sich, dass er Frau Bohner nun doch nicht zu vertrösten brauchte, sondern ihr die Miete gleich würde bezahlen können. Er traf sie aber nicht an. In seinem Zimmer hatte sie frische Handtücher über den Ständer neben der Kommode gehängt und außerdem noch einen ganzen Stapel in die Schublade getan. Im Eck neben dem Ofen lag, offenbar für Gaski gedacht, eine Drittelmatratze, über die sie einen alten Militärmantel gezogen hatte. Gaski verstand schneller noch als Ludwig.

      Als dann Frau Bohner nach Hause kam, hatte Herkommer, weil er am nächsten Morgen früh aufstehen musste, schon kein Licht mehr an. Sie warf einen frohen Blick auf seine Tür, so wie man auf ein schlafendes Kind blickt, und verschwand so leise wie möglich im Badezimmer. Ludwig, der erst wenige Minuten vorher zu Bett gegangen war, war noch wach und verfolgte alle Geräusche; wahrscheinlich, nahm er an, schlief Gaski auch noch nicht und hatte seine Ohren aufgestellt und sogar seinen Kopf gehoben. Unter dem Eindruck der Geräusche musste Ludwig sich erst klarmachen, dass er nicht in eine fremde Wohnung eingedrungenen war, sondern dass das hier jetzt sein Revier, sein eigenes Revier war, jedenfalls bis zur Zimmertür. Das war ein tröstlicher Gedanke. Wahrscheinlich steht sie jetzt im Bad nackig vor dem Spiegel, dachte er noch, dann schlief er ein. –

      Ludwig Herkommer und Gaski hatten oft tagelang keinen Einsatz.

      „Ihr beide seid nicht da, um ständig im Einsatz zu sein“, sagte Eugen Saller, wenn