Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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klappt so einigermaßen – freilich manchmal eher schlecht als recht. Ein großer Haushalt funktioniert eben nicht ohne Weiteres ohne Hausherrin, und Bienchen ist da noch viel zu klein, obwohl sie sich rührend Mühe gibt.“

      „Mir steht das jetzt wohl noch bevor. Du weißt ja, Agnes ist in ihr Elternhaus zurückgekehrt, wie sie es genannt hat; bis auf weiteres. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als Viktor in ein Internat zu geben, zum Glück mit einer besonders guten persönlichen Betreuung. Viktor ist in einem schwierigen Alter.“

      „Bienchen hatte sich seinerzeit mit Händen und Füßen gegen ein Internat gesträubt.“

      „Nein – Viktor nicht. Er war überrascht, natürlich, aber irgendwie auch neugierig. Er suchte ja auch hier ständig nach neuen Herausforderungen, das machte mir zunehmend Sorge. Es waren die allerverwegensten Streiche, die er mit seinem Kumpan, dem kleinen Herkommer, ausgeheckt hat. Einer versuchte, den anderen zu übertreffen, zwischen den beiden herrscht ja ständige Rivalität! Von der jüngsten Missetat habe ich überhaupt erst über die Staatsanwaltschaft erfahren; zum Glück kennt man dort so einige Leute. Haben diese Burschen doch versucht – was heißt versucht, sie haben es getan –, sie sind auf der Breiten Straße mit dem Fahrrad zwischen zwei Straßenbahnen, die sich begegneten, hindurchgefahren! Das Ganze bei Dunkelheit, damit die Wagenführer sie nicht sehen. Aber der kleine Herkommer ist von einem der Schaffner erkannt worden, und so ist die ganze Geschichte ins Rollen gekommen.“

      Der Konsul erinnerte sich noch allzu genau. „Ist halb so wild“, hatte Viktor ihn damals zu beschwichtigen versucht, „das sieht bloß so gefährlich aus. Das haben wir vorher alles genauestens geklärt. Du musst nur ebenso schnell fahren wie die Straßenbahn rechts neben dir – die fahren in der Innenstadt nicht so schnell –, dann kannst du, wenn der Gegenzug kommt, dich mit dem Ellenbogen sogar ganz leicht rechts abstützen und hast links von der Lenkstange noch gut zwei Handbreit Platz, das ist alles.“ – Aber da hatte er ihm aufgebracht entgegnet: „Was heißt hier ‚Du musst nur‘? Was heißt da ‚du‘? Willst du mir womöglich beibringen, wie ich mich mit dem Fahrrad zwischen zwei sich begegnenden Straßenbahnzügen hindurchzwängen kann? Eine ausgesprochen dämliche Mutprobe, Viktor! Eine Mutprobe nach gegenseitigem Aufschaukeln war das!“ – Er konnte sich noch an jedes Wort erinnern.

      „Und das, Strauss, hatte den letzten Anstoß für das Internat gegeben.“

      Vor sich hinmurmelnd setzte er noch nach: „Jetzt ist er fort.“ Aber nach einer kurzen Pause fuhr er laut fort: „Er ist bestimmt dort gut – er ist bestimmt dort besser aufgehoben als hier.“

      „Bienchen jedenfalls hat Viktors plötzliche Abreise sehr überrascht. Als sie nach Hause kam und hörte, dass Viktor vorbeigeschaut hat, um sich von ihr zu verabschieden, war sie richtig traurig und hat dem Kanarienvogel den Trauermarsch von Mahler vorgespielt – rührend!“

      „Auf der Violine?“, fragte der Konsul zerstreut.

      „Ja. Auswendig, natürlich nur einige Passagen, aber immerhin, und diese dafür mehrmals nacheinander und jedes Mal trauriger – herrlich! – und schließlich sogar geradezu schluchzend mit entsetzlich übertreibenden Klagetönen. Wobei sie allerdings am Schluss selbst lachen musste und sagte, dass das Letzte – aber nur das Letzte! – bloß ein Scherz gewesen sei.“

      „Erstaunlich, wie sie mit ihrer Geige schon umgeht!“

      „Ich habe ihr aber gleich gesagt, dass jeder Scherz im Leben einen ernsten Ursprung hat. Jeder Scherz, der irgendwo auf der Welt gemacht wird – oder gemacht worden ist oder gemacht werden wird –, überall und ausnahmslos, hat im Hintergrund einen ernsthaften Ursprung, man kann auch sagen: einen durchaus ernstgemeinten Kern, und sei er noch so klein. Sonst wäre es zu diesem Scherz nämlich überhaupt nicht gekommen. Und Sabine, die ein kluges Kind ist, hat sichtbar nachgedacht und ernst dazu genickt.“

      „Ja, sie ist ein kluges und nachdenkliches Kind.“

      „Ihre große Hoffnung ist es, einmal auf der Guarneri spielen zu dürfen. Das ist ihr allergrößter Wunsch, dem sie alles andere unterordnet. Deshalb übt sie auch so besessen und hofft, mich eines Tages überreden zu können. Das Instrument ist zwar auf Jahre hinaus ausgeliehen, aber das schlaue Bienchen hat sich mit meiner Sekretärin angefreundet und weiß so wenigstens, wo sich die geliebte Violine befindet und zu welchen Konzerten in der Welt sie demnächst reist.“

      „Warum bist du da so streng, Strauss? Eine in Aussicht gestellte Belohnung hilft manchmal mehr als alles andere. Versprich ihr doch, dass sie darauf spielen darf, wenn die Guarneri wieder einmal im Hause ist, bevor sie dann wieder ein anderer Geiger bekommt. Oder fürchtest du, dass Bienchen etwas kaputtmachen könnte? Es soll doch sogar gut sein für den Klang, wenn solche Instrumente viel gespielt werden – stimmt das? Oder gilt das nur, wenn ein Virtuose darauf spielt?“

      „Nein, nein, ich befürchte etwas ganz anderes. Wenn Bienchen auch nur ein einziges Mal auf diesem Instrument gespielt hat, schon nach den ersten Tönen, wird sie womöglich nicht mehr auf ihrer eigenen Violine spielen wollen. Mindestens hat sie dann nicht mehr diese Freude daran. Du machst dir ja keinen Begriff, Zabener, welch unglaublicher Unterschied zwischen einer alltäglichen Violine und dieser Guarneri besteht – dabei hat Bienchen keineswegs ein geringes Instrument! Ich bin ja nur ein kleiner Stümper auf der Violine, im Gegensatz zu meinem Vater. Wenn der einmal das gleiche Stück auf der Guarneri und dann auf der Violine meiner Mutter spielte, hörte sogar ich den Unterschied. Meine Mutter lachte nur dazu und sagte, das sei die Ausstrahlung der Guarneri, und deshalb spiele er auf ihr einfach besser. Da ist natürlich etwas dran! Wann immer ich es einmal selbst versuchte – mit einem eher schlechten Gewissen, denn bei meinen bescheidenen Fertigkeiten schien mir das fast ein Sakrileg –, wann immer ich es also einmal selbst versuchte, klang alles viel vollkommener, für mich selbst manchmal sogar geradezu hinreißend, wenigstens für ein paar Takte. Alles ging auch viel müheloser, du musst wissen, ein solches Instrument spricht tatsächlich auch viel leichter an und ist sofort voll da! Wenn es gut läuft, dann hast du das Gefühl, noch bevor du den Bogen aufsetzt –“, Strauss stockte und suchte nach einer passenden Formulierung, „– manchmal glaubst du, die Saite fange bereits an zu schwingen einen winzigen Augenblick, bevor du sie berührst“, schwärmte Strauss, „und genau im richtigen Ton, in der richtigen Stärke, in der richtigen Modulation! Ein solches Instrument hat ja ein verborgenes Leben und eine Seele und darum auch ein Gedächtnis und es weiß auf eine geheimnisvolle Weise, wie das Stück weitergeht. Je besser der Ton, den du anstreichst, mit jenem übereinstimmt, den das Instrument kennt – da gibt es ja unendlich viele Nuancen und Möglichkeiten der Variation –, umso vollendeter dann der Klang. Und das nicht bei einem einzigen Ton, sondern bei einer ganzen Folge von Tönen, bei einem ganzen Satz, bei einem ganzen Konzert! Das ist wohl der Grund, warum ein solches Instrument, von Könnern gespielt, im Laufe der Jahrzehnte sich selbst immer mehr veredelt. Es ist, als ob das Instrument im Laufe der Jahrzehnte mit immer größerer Gewissheit ahne, wie die nächsten Töne klingen könnten.“

      Zabener nickte: „Es hat ein Gedächtnis –“

      „Das weiß jeder Virtuose“, sagte Strauss, „und es lernt dazu! Aber man spricht nicht weiter darüber, das ist alles zu wenig beweisbar. Aber absolut gesichert ist, dass auch ein Virtuose, ja gerade der Virtuose, eine Violine, und sei sie noch so berühmt, erst einspielen muss – das ist genau dieser Vorgang, und der kann manchmal Monate dauern.“

      „Wobei aber die Frage ist, ob der Geiger tatsächlich die Geige einspielt oder ob er sich nicht umgekehrt allmählich selber auf der Geige einspielt.“

      „Auf jeden Fall ein Anpassungsprozess, wahrscheinlich ein beidseitiger“, räumte Strauss ein.

      Strauss war gegen Ende seiner langen Rede leiser geworden und verstummte jetzt ganz, denn er fürchtete, dem Freund schon zu viel von seinen Violinengeheimnissen offenbart zu haben, doch Zabener schmunzelte nur über Straussens Überschwang. –

      So sprachen sie über dieses und jenes, lange über das Abendessen hinaus. Doch mitten in dieser gelösten Stimmung wurde der Konsul zunehmend unruhig und fing an, sich unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu bewegen.

      „Strauss, ich muss