Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernt Spiegel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940524904
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Sympathie für Weimar und habe große Hoffnungen in die neue Republik gesetzt, ganz im Gegensatz zu vielen meiner Kriegskameraden und auch im Gegensatz zu den meisten in meiner alten Breslauer Verbindung. Ich habe überall in meinem Bekanntenkreis für die junge Republik geworben und gekämpft. Aber nach Versailles fühlte ich mich doch – wie die meisten, die für Weimar waren –, richtig im Stich gelassen und musste, spätestens mit der Besetzung des Ruhrgebiets6, allmählich einsehen“, und dabei setzte er sich aufrecht, „dass eine nationale Gesinnung es einfach erfordert, sich stärker auf die alten Werte zurückzubesinnen.“

      „Na ja –“, setzte Strauss an, entschied sich dann aber doch, den Blick noch einmal auf die Vergangenheit zu richten, „gerade unsereiner, Zabener, hat sich ja kolossal verändert in diesen vier, fünf Jahren des Krieges! Erst diese überschäumende Begeisterung, dann die Ernüchterung – und bei mir noch diese tiefe Kränkung durch die Judenzählung –, dann, noch im Krieg, der immer schärfer werdende Blick für einen hohlen Militarismus und zugleich das wachsende Verständnis für die Arbeiterschaft. Die haben wir ja vorher überhaupt nicht gekannt! Und dann nach Kriegsende, nachdem die närrisch gewordenen Soldatenräte abgeschüttelt waren und wir einer Rätediktatur entgangen sind, bei allem Durcheinander und aller Not plötzlich die Aussicht – zum Greifen nah! – auf etwas gänzlich Neues, was es noch nie so recht gegeben hat in Deutschland: eine Demokratie! Dafür hat ja schon, wie du mir erzählt hast, dein Großvater 1849 in Rastatt gekämpft. Stell dir vor: eine Demokratie in Deutschland! Eine Republik, die Weimarer Republik! Mensch, Zabener, etwas, das die ganzen alten Verkrustungen aufsprengen würde! Lammfromm und zahm waren wir 1914 doch alle noch, sauber aus- und abgerichtet auf Militär und Kaiser und den ganzen Wilhelminismus. Aber dann sind wir, sofern den Schlachtfeldern entronnen, als ganz anderen Menschen aus diesem Krieg herausgekommen.“

      „Nicht alle als ganz anderen Menschen, nicht alle – es waren eigentlich nur wenige. Es waren zu wenige. Und wir wurden allmählich noch weniger. Keiner mag heute mehr für die gute Sache kämpfen, ich sehe es ja an mir selbst. Das war der Versailles-Effekt. Da musste man sich doch verraten fühlen. Nicht nur durch die Maßlosigkeit der Forderungen – man kann ruhig auch sagen: durch die betonte Einseitigkeit des Vertrages –, sondern vor allem auch durch die ganzen entwürdigenden Umstände, durch diese beabsichtigte Kränkung des besiegten Gegners. Aber die anderen bei uns, die Verächter und die Feinde der Republik, die fühlten sich durch Versailles ja keineswegs verraten, sondern im Gegenteil nur bestätigt. Die triumphierten doch geradezu! Die eigentlich Betroffenen waren doch wir! Rantzaus Rücktritt als Außenminister war der Anfang der Resignation und war seine Antwort auf den Versailler Vertrag. ‚Ein Verbrechen an Deutschland‘, so hat er den Vertrag genannt, du weißt das ja alles –. Brockdorff-Rantzau kam zwar aus einer ganz konservativen Ecke –“

      „Wie du eigentlich auch“, lachte Strauss dazwischen.

      „– ein steifbeiniger Aristokrat bis zum Letzten und ein selten harter Knochen noch dazu, aber er hat sich dann doch noch zu einem Mann entwickelt, der an die junge Demokratie glaubte. Der hat doch konsequent demokratische Positionen vertreten, auch später als Botschafter in Moskau, da war er doch um ein gutes Verhältnis zu Russland bemüht, aber die geheime militärische Zusammenarbeit lehnte er strikt ab. Der lag deshalb ein paar Mal mit dem Truppenamt ganz schön über Kreuz – jetzt ist er tot.“

      „Was ist das, ‚Truppenamt‘?“, fragte Strauss, „eine Art Nachfolge des Kriegsministeriums?“

      „Das ist die Tarnbezeichnung für den verbotenen Generalstab, mein Lieber“, brummte Zabener, „auf dass sie es bald wieder krachen lassen können!“

      „Meinst du wirklich?“

      „Ich fürchte, ja, Strauss. Seit der Inflation ist es zwar, wenn auch langsam und mühsam, wieder bergauf gegangen. Die Währung wieder geordnet, die Wirtschaft erholt sich mit den Dawes-Krediten, das Ansehen in der Welt nahm wieder zu, Stresemann und Briand erreichten sogar eine erste Annäherung, alles schön und gut – aber spätestens seit der Wirtschaftskrise sieht es doch schon wieder bedrohlich aus. Unsere Demokratie hat einfach keine Wurzeln!“

      Lauter fuhr Zabener fort: „Wo gibt es denn das sonst noch in der Welt, „zwei Flaggen gleichzeitig! Unsere Auslandsmissionen zeigen die demokratische Reichsflagge Schwarz-Rot-Gold und hissen gleichzeitig noch als Handelsflagge die schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreichs! Nirgends kannst du besser sehen, wie wackelig unsere Republik ist!“

      Beide schwiegen sie eine Weile verdrossen. Dann wurde Zabener immer ärgerlicher: „Im Grunde genommen interessiert mich ja dieser ganze politische Mist überhaupt nicht mehr! Das sind diese Journalisten – und natürlich auch die Parteien, die Politiker, die Parlamentarier –, die da ein künstliches Interesse bei der Bevölkerung erzeugen und aufrechterhalten wollen. Diese Zeitungsleute! Gleich auf der ersten Seite geht es damit los, als ob die Politik das Wichtigste sei im Leben! Das setzen die einfach voraus und schreiben drauflos, mit der Zeit wird es dann tatsächlich so! Wirtschaftsnachrichten und auch Kultur, Theater, interessante Veranstaltungen, Reisen, technische Fortschritte, das würde mich alles viel mehr interessieren.“

      Der Konsul war richtig zornig geworden. Strauss versuchte, ihn zu beschwichtigen:

      „Du hast ja nicht ganz unrecht, Zabener, aber man muss wissen, was geschieht in der Welt!“

      „Ach was, nichts muss man wissen! Wir haben ja doch keinen Einfluss! Nicht den geringsten Einfluss haben wir!“

      „Aber es ist doch nicht zu bestreiten, Zabener, dass heutzutage, wo die Unruhe immer größer wird, sich weite Kreise tatsächlich für das politische Geschehen zu interessieren beginnen und dafür, wie es weitergeht. Das ist gut so!“

      „Das sind doch die Journalisten selbst, die das alles so hochspielen! Und die sich dann auch noch frech als Kontrollinstanz gebärden und Lob und Tadel verteilen, diese ewigen Besserwisser!“

      „Den Politikern natürlich kann es nur recht sein, wenn sie in der Presse genügend Beachtung finden“, gab Strauss zu bedenken. „Ein Abgeordneter der Deutschnationalen, an sich ein kluger Mann, sagte mir kürzlich, dass eine bloße Erwähnung in der Presse fast ebenso wichtig sei wie eine zustimmende Erwähnung, weshalb ihm sogar eine ablehnende Erwähnung immer noch lieber sei als überhaupt keine. Es käme eben nur darauf an, dass man nicht gleich sämtliche Blätter von links nach rechts unisono gegen sich habe – einige wenige zustimmende Äußerungen, von den richtigen Leuten in den richtigen Blättern, das reiche schon vollständig aus.“

      „Ach, geh mir fort, Strauss! Diese schlauen Taktiker! Die Politiker, so sollte man doch meinen, entscheiden im Parlament aufgrund ihrer Gesinnung, stattdessen sind das alles Interessenvertreter, und ihre oberste Richtschnur ist die eigene Karriere! Das sind zum großen Teil doch reine Wichtigtuer, denen es vor allem darum geht, dass sie an der Macht bleiben, dass sie wiedergewählt werden! Leute mit zweifelhafter Berufsausbildung und von ungewisser Herkunft, die da Morgenluft wittern!“

      Inzwischen war, trotz der späten Stunde, der Chauffeur Herkommer vorsichtig eingetreten, um ein verschnürtes Aktenbündel beim Konsul abzuliefern, das er in einer Baseler Kanzlei hatte abholen sollen. Er blieb, solange der Konsul sprach, an der Tür stehen, ganz wohlerzogener Chauffeur, mit unbewegtem, aber aufmerksamem Gesicht, das Aktenbündel in der einen, die abgenommene Dienstmütze in der anderen Hand.

      „Ah, Herkommer, guten Abend! Sie sind schon wieder zurück? Ganz schöne Strecke! Hat alles gut geklappt?“, sagte Zabener in einen plötzlich ungleich freundlicheren Ton und nahm die Akten entgegen. „Das hätte auch bis morgen früh noch Zeit gehabt. Sie hätten nach der langen Fahrt nicht erst noch zu Dr. Strauss herüberzukommen brauchen! Aber es ist vielleicht doch besser, wenn ich die Akten jetzt schon bekomme. Vielen Dank, Herkommer, gut gemacht!“

      Und weil sie schließlich Kriegskameraden waren, fügte er noch hinzu: „Komm, setzen Sie sich noch auf ein Gläschen zu uns!“

      Als Herkommer merkte, dass ihm Lob und Anerkennung begegneten, machte er ein pfiffiges Gesicht, wie er es immer tat, wenn er glaubte, zu einer Unterhaltung etwas beitragen zu sollen. Kaum saß er richtig, ergänzte er die Kanonade des Konsuls auch schon mit seiner ersten Bemerkung, bei der bereits der Ton,