Das Fernsehen brachte allen westlichen Demokratien die »scripted reality«, die zunächst die Wirklichkeit ins Fernsehen, dann aus der Wirklichkeit Fernsehen machte. Demokratische Prozesse wurden mehr und mehr in ein Skript transformiert, das mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu schaffen hatte. Zunächst schien dies alles nur ein riesengroßer Spaß zu sein. »Wir amüsieren uns zu Tode« fasste Neil Postman die Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie zusammen. Und tatsächlich. Die multikulturelle Warengesellschaft ergötzte sich an TV-Formaten, die Fremdschämen zum Dauerzustand machten. Nicht nur der Boulevard machte fröhlich mit, sondern nach und nach auch die Qualitätsmedien. Experten, Talk-Hosts, Publikum, sie alle wurden ein Stück »Tutti Frutti«.
Wie immer waren die Vereinigten Staaten von Amerika diesbezüglich stilbildend. »Kennedy or Nixon: Does It Make Any Difference?«, fragte der renommierte Historiker Arthur M. Schlesinger schon im Jahr 1960 (!). Er beklagte dabei die Ähnlichkeiten der für uns Nachgeborene so komplett unterschiedlich wirkenden Politiker wie Richard Nixon und John F. Kennedy. Schlesinger monierte schon damals, dass die Kandidaten wie vorgefertigte Politikprodukte daherkämen. Politisches Programm? Konkrete Gesetzesvorschläge? Ausbau der Demokratie? Fehlanzeige! Schon bei Kennedy und Nixon spielte das Image eine große Rolle. »Nixon schwitzte – Kennedy gewann« (»Die Welt«, 5.6.2005). Die Fernsehdemokratie machte damit das Image zur politischen Führungsqualität: 1980 wurde logischerweise auch das erste Mal ein Schauspieler Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Ronald Reagan entsetzte viele Intellektuelle aufgrund seiner mangelnden politischen Erfahrung – dabei hätten sie schon damals realisieren müssen, dass fortan Prominenz in allen Lebensbereichen jegliche Kompetenz schlagen würde. Vom Schauspieler zum Twitterpräsident war der Weg also schon seit 1980 gar nicht mehr so weit, wie man meinen könnte. Seit nämlich die Apparate die Wirklichkeit übernehmen, gilt: the winner is the image. Bei Kennedy und Nixon war dies zum ersten Mal offensichtlich. Wer nämlich 1960 nur Radio gehört hatte, war überzeugt, dass Richard Nixon gewinnen würde. Seine Stimme war dunkel, sonor und angenehm, während John F. Kennedy äußerst affektiert klang. Doch wer Fernsehen guckte, sah einzig den gut aussehenden John F. Kennedy neben einem schwitzenden, blassen und düster wirkenden Richard Nixon. Seitdem entscheidet das Fernsehen über die höchsten Politiker und weniger die von ihnen vertretenen Programme. So ist es wenig erstaunlich, dass mehr und mehr nur noch die Person und nicht die Politik im Vordergrund steht. Es bleibt indessen die Aufgabe einer kritischen vierten Gewalt, sich vom Schein nicht so blenden zu lassen, dass man selbst mit allen Mitteln ins Rampenlicht drängen will. Doch die Demokratie ist endgültig eine Seifenoper geworden: Für die meisten Menschen leider mit eher schlecht geschriebenen Folgen und Figuren. Was genau sind eigentlich Seifenopern?
Eine Seifenoper ist ein in regelmässigen Abständen publiziertes Unterhaltungsformat, das primär Werbezwecken dient. Soap-Operas gehören in die Anfangszeit der technisch übermittelten Medienmoderne. Es gibt sie schon seit 1932 (Radio), doch sie erfreuen sich bis in unsere Tage völlig ungebrochener Beliebtheit, wie etwa die HBO-Serie »Game of Thrones« beweist. 1947 kamen die Seifenopern ins Fernsehen, und seitdem gibt es keinen Bereich in Gesellschaft und Politik, der nicht dem guten Drehbuch filmischer »Realitäten« zu gehorchen hat. Das Geheimnis von Soaps besteht im Wesentlichen aus einem guten Skript, attraktiven Hauptdarstellern, die miteinander, untereinander, durcheinander entlang verschiedenen Handlungssträngen agieren. Drama, eingebautes maschinelles Lachen, Liebe, kurz alles, was das private Herz erfreut, bilden die verschiedenen Storylines. Seifenopern hören nie auf: Cliffhangers (Spannungsbögen) sorgen dafür, dass keine Episode verpasst werden darf. Deshalb erfreuen sich gegenwärtig auch so viele extreme Positionen ungebührlich hohe Fernsehpräsenz. »Drama Baby, Drama!« ist das Motto. Danach richten sich Medien und Umfragen. Deshalb setzen Polit-Talks auch auf Extreme statt auf Diskussionen. Das Script, die Suspense, die Unterhaltung müssen stimmen: Seifenopern-Journalismus eben. Polit-Talks sind nicht zum Diskutieren oder für die Information da, sondern in erster Linie dafür geschaffen, den Sender und die Moderatoren zu promoten. Es geht um gute Storys, nicht etwa um die politische Wirklichkeit. Diese kommt nur zum Zug, wenn sie knackig auf den Punkt gebracht werden kann. Seifenopern-Journalismus verkauft Marken, Moderatoren-Brands und Politiker-Marken. Der viel beschworene gute alte Printjournalismus gehorcht ähnlichen Regeln: zuerst die Werbung, dann die Information. Zwar richtet sich der Inhalt nicht explizit an Werbekunden, darf aber natürlich auch nicht in direktem Widerspruch dazu stehen. Dies war früher noch krasser. Die spektakulären Konflikte der großen Verlagshäuser mit der Auto-, Atom-, Pharma- und Ölindustrie der 1980er-Jahre erzählen davon. Doch noch 2011 führte beispielsweise ein kritischer Artikel über ein Warenhaus in der Schweiz zur Sistierung von über 50 000-Franken-Werbung im betreffenden Blatt. Es versteht sich von selbst, dass der betreffende Journalist nicht mehr lange für das Blatt arbeiten durfte. Wer sich also heute über die Anzeigen im Netz, die fehlende Trennung zwischen Business und Information und die Identität zwischen Influencer und Produkt beklagt, täte gut daran, auf die lange Geschichte der scripted reality auch der klassischen Medien hinzuweisen.
Schon früher verkauften sich auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die meisten Sendungen wie Seifenopern. Selbst Experten wurden nach dem Seifenopern-Prinzip ausgewählt: Alle hatten einigermaßen gut auszusehen oder zumindest den ihnen zugewiesenen Part ordentlich auszufüllen. Vorbild dieser Art von Fernsehen war selbstverständlich der Sport, respektive die Sportberichterstattung. Deshalb kommen die besten Polit-Talker nicht etwa aus der Philosophie, sondern aus der Werbe- und Sportindustrie. Die meisten begannen als Sportjournalisten, deren Ziel üblicherweise darin besteht, für die jeweilige Sportart möglichst viel Aufmerksamkeit zu generieren. Wahlen werden wie Liga-Spiele im Fußball inszeniert: Es gibt Duelle, Prognosen, Experten, es gibt gute Vorbereitungen, Mittelfelder und Endspiele. All dies nennt sich in der Politik dann »Demoskopie«. So ist das Krawallpotenzial beim Sport und in der Politik nicht nur ähnlich hoch, sondern entsprechend inszeniert. So folgte der Kommerzialisierung des Sports die durch und durch marketingorientierte Politik. Die Produkte, die in diesem undemokratischen Script verkauft werden, heißen Wahlen, Politiker, Moderatoren, TV-Sender, Umfragen, Prognosen und Börsenwerte. Es geht den meisten Politakteuren und -produkten nicht wirklich um Deliberation, Aushandlung und Diskussion unterschiedlicher Positionen, sondern vor allem um Eigenmarketing. Demokratie? Gerechtigkeit? Gleichheit vor dem Gesetz? Wohlstand? Bildung für alle? Völlig egal, solange die Einschaltquoten, die Retweets, der Zitationskatalog der diversen Medienbanken und die Wiederwahl passen. Schon Barack Obama war ein genialer Verkäufer – Donald Trump hat es ihm nur nachmachen müssen. Beide haben erkannt, dass Wahlen dadurch zu gewinnen sind, wenn man in erster Linie sich selbst verkauft. Dadurch gibt man übrigens auch den Gegnern die Möglichkeit, sich selbst zu verkaufen. Demokratie als Konsum kennt eben keine politischen Grenzen. Hat beispielsweise die Korruption der FIFA der Fußballeuphorie von Milliarden Abbruch getan? Nicht wirklich. Also. Wer es schafft, sich zu verkaufen, spielt in den westlichen Demokratien sehr schnell und sehr erstaunlich in der Spitzenliga.
Dieser Wirklichkeitsverlust durch die ständige Demokratie-Inszenierung, durch diese scripted reality wird durch die Kennzeichnung als »Die Empörungsdemokratie« (Bernhard Pörksen, »NZZ«, 15.2.2018), »Die Aufmerksamkeitsfalle« (Matthias Zehnder) oder »Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet« (Stephan Ruß-Mohl) in ihrer medialen Totalität nicht erfasst. Es geht schon lange nicht mehr darum, dass die Medien ihre Aufgabe nicht richtig wahrnehmen, sondern wie stark die medialen Drehbücher von Brot und Spiele die politische Logik der westlichen Demokratien dominieren. Bei Experten und Journalisten fehlt in dieser Hinsicht die Selbstkritik. Wenige wollen den eigenen Anteil der Selfie-Medien-Marketingtendenzen