Sarah Penrose. Priska M. Thomas Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Priska M. Thomas Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907146828
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las im Sommer einen Kurzbericht in der FAZ», wechselte Sarah das Thema. «Ein alter Mann aus einem Frankfurter Seniorenheim wurde vermisst und später tot in einem Park aufgefunden.»

      «Vermisst?», höhnte Adele und steckte sich eine weisse Trüffelpraline in den Mund. «Kein Mensch hat den Alten vermisst.»

      «Wirklich? Kannten Sie den Mann?», fragte Sarah höflich.

      «Ja, der Adolf Müller, der wohnte hier im Erdgeschoss. Brüstete sich noch immer mit Weibergeschichten. Soll glauben, wer es will. Ich bin jedenfalls nicht auf ihn eingegangen», sagte Adele und kicherte: «Wenn es früher bloss Männer wie ihn gegeben hätte, wäre ich ledig geblieben. Sie wissen schon, er war einer, dem keine Frau nachts hätte alleine über den Weg laufen wollen.»

      «Ist es denkbar, dass er keines natürlichen Todes starb?», fragte Sarah.

      «Wie denn sonst? Mit beinahe 100!»

      Nach ihrer Rückkehr aus Frankfurt traf Sarah Brigitte zufällig im Zentrum von Fleckenbronn.

      «Super, dich zu sehen», rief Sarah. Sie bedauerte, dass Brigitte keine Zeit für einen Kaffee und einen Schwatz hatte und rasselte die Neuigkeiten im Stehen herunter.

      «Du glaubst es nicht! Die Kunstgalerie mit John-Pierres Bildern lag in Sachsenhausen, bloss ein paar Meter entfernt von der Seniorenresidenz deiner Oma. So kaufte ich spontan Pralinen und ging deine Oma besuchen. Sie lässt dich herzlich grüssen»

      «Oh, das ist so lieb von dir. Sie hat sich bestimmt gefreut. Sie hat ja kaum je Besuch», antwortete Brigitte und fragte «Ist sie gesund und munter?»

      «Ziemlich. Unglaublich wach und an allem interessiert schien sie mir. Da war meine Granny, die Mutter meiner Mutter, ganz anders. Sie hat sich nach dem Tod meines Grossvaters in ihre eigene Welt zurückgezogen …»

      «Ja, erzähl ein anderes Mal. Jetzt muss ich sausen, sonst komme ich zu spät zum Dienst», drängte Brigitte und als Nachgedanke: «Ich fahre übrigens nach Hamburg, zu meinen Eltern. Ich muss Urlaubstage einziehen und Überstunden kompensieren. Im Hotel herrscht Flaute. Ich melde mich.»

      Sarah hätte gerne mehr vom Tannwald erfahren. Sie wohnte nun im Haus von Hannes’ Eltern und fühlte sich abgeschnitten vom Hotelbetrieb und der Gemeinschaft der Angestellten. Brigitte fehlte ihr. Die beiden hatten früher zwar nicht jede freie Stunde zusammen verbracht, doch sie hatten sich täglich im Vorbeigehen zugewinkt und sich dabei verbunden gefühlt.

      Seit Mitte November half Sarah Gustav morgens in der Backstube und Emma nachmittags im Café. Ihre Arbeit begann in aller Herrgottsfrühe, bei tiefster Dunkelheit. Das einzig Angenehme waren der Duft und die wohlige Wärme der Backstube und der frühe Arbeitsschluss. Sie war nicht zufrieden mit dieser Lösung, in die sie hineingerutscht war. Doch der Dezember war der strengste Monat in der Bäckerei, und Gustav war froh um jede Hilfe. Sarah schuldete ihm und Emma einen guten Dienst. Die beiden hatten ihr ein möbliertes Zimmer neben ihrer Wohnung angeboten, als Sarah Ende Oktober nicht länger im Personalhaus des Tannwald wohnen konnte.

      Sarah begann, abends zu joggen, dem Tonbach entlang bis zum Pudelstein, von dort hoch zur Kanzel und auf breiten Wegen zurück zum Ort. Jetzt, wo es schon um 17 Uhr dunkel wurde, trug sie dabei eine Stirnlampe und achtete auf Geräusche, die sie am Tag nicht hörte. Einmal, als sie sich auf einem abschüssigen Pfad auf die Wurzeln konzentrierte, stand ein Mann am Wegesrand. Ohne Taschenlampe an einem Baum gelehnt. Sarah sah ihn erst im letzten Moment, stoppte und fragte, ob er Hilfe brauche.

      «Nein, ich habe bloss Seitenstechen. Verklemmter Furz. Geht schon», brummte der Typ, und sie lief schnell weiter. Dabei fiel ihr Izzys Oma ein, die als Kind vor über 70 Jahren missbraucht worden war und als alte Frau in New York frühmorgens wach gelegen und auf einen Anruf ihrer Enkelin aus Deutschland gewartet hatte. Was, wenn der Typ hier auch …

      Während Sarah in Gedanken versunken weiter joggte, meinte sie, Schritte hinter sich zu hören. Doch dann herrschte wieder Stille. Eine Winterstille, die man sich im Frühling und Sommer nicht vorstellen konnte, wenn Kinder spielten, der Wind durch die Bäume strich, ein Bach plätscherte und die Vögel den frühen Morgen und den Abend lobten. Sie bemühte sich, ihrem Instinkt, sich umzudrehen, zu widerstehen und rannte in gemässigtem Tempo weiter. Vermutlich war es doch ein Tier, oder bloss ein dürrer Ast, der gebrochen war. Trotzdem nahm sie sich vor, ihre Laufstrecke künftig zu variieren und zu unterschiedlichen Zeiten zu starten. Sie wollte keine Gewohnheiten etablieren. Während sie auf die schimmernden Lichter im Tal zu rannte, fragte sie sich, warum sie sich hier im Wald plötzlich fürchtete, und ob es nicht doch besser wäre, nach England zurückzukehren. Seit Izzy weg war, hatte sie hier niemanden mehr, mit dem sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte. Nicht zuletzt vermisste sie die Kinder.

      Sarah hatte es bis jetzt unterlassen, Finlay und ihre Mum über den Wechsel vom Hotel Tannwald ins Café Frey zu informieren. Sobald sie eine Ahnung davon hatte, wie ihr Leben weitergehen würde, würde sie ihnen schreiben. Sie lernte schon seit Wochen auf das Goethe-C1 hin, ein Deutsch-Zertifikat, von dem sie sich einen besseren Job oder einen erleichterten Zugang zu einer Universität im deutschsprachigen Raum erhoffte. Ausser Brigitte wusste niemand davon, denn Sarah fürchtete die Blamage, falls sie durch die Prüfung fallen sollte. Es bestand kein Grund, viel Wirbel um ungelegte Eier zu machen.

      Sarah konnte an jenem Abend lange nicht einschlafen. Anders als im Tannwald, wo sie nach den langen Arbeitstagen erschöpft ins Bett gefallen war, und bis ihr die Augen zufielen, ein paar Seiten in einem Buch gelesen hatte, drehte sie sich jetzt von links nach rechts, von rechts nach links. Dabei dachte sie daran, wie früh sie am nächsten Morgen wieder raus musste, wie wenige Stunden Schlaf ihr blieben. Sollte sie nicht doch besser studieren, oder einen Job in Basel finden, zu Hannes ziehen und so leben wie andere junge Paare? Sie konnte sich nicht entscheiden. Kinder wollte sie keine. Nicht, nachdem sie erlebt hatte, wie unerwartet Rudi und Izzy Rothfuss die Scheidung beschlossen und ihre Familie auseinandergerissen hatten. Hier im Schwarzwald, fern von Hannes zu wohnen und zu arbeiten und sich zwischendurch zu treffen, schien ihr für den Moment der bessere Weg. Doch die Frage nach der grossen Liebe hing in der Luft. Als Sarah Hannes kennenlernte, war sie mit Moira zusammen gewesen, einer wunderschönen, gross gewachsenen Schottin. Sie hatte sie in einem Italienischkurs in Florenz getroffen, bewundert und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie hatte den Sex mit ihr mehr genossen als je zuvor oder danach mit Männern. Trotzdem hatten sie sich nach ihren gemeinsamen Ferien in Kenia getrennt. Ob sich Moira noch immer in Afrika in einem Hilfsprojekt nützlich machte? Sarah erwog, ihr zu Weihnachten eine Karte an die alte Adresse, jene von Moiras Eltern in Schottland zu schicken. Kurz vor Mitternacht schlief sie endlich ein.

      Am folgenden Wochenende war Sarah noch immer verunsichert über ihre Zukunft und ihre Beziehung zu Hannes. Doch sie beschloss, ihm nicht von ihren Zweifeln zu erzählen. Während sie duschte, summte sie ein Weihnachtslied, das sie in der Backstube immer wieder am Radio gehört hatte. Sie verstand sich gut mit Gustav, und auch mit Emma und den Angestellten. Die Bedienungen im Café waren langjährige Kräfte und freundlich. Natürlich überliessen sie Sarah die mühsamen Arbeiten und die unangenehmen Gäste und tuschelten hinter ihrem Rücken, wenn sie Fehler machte. Doch Sarah betrachtete den Job in der Bäckerei als Übergangslösung. Dass hier niemand Englisch konnte, kam ihr entgegen. So sprach sie ausschliesslich Deutsch und lernte umso schneller. Butterbrezel und Schwarzwälder Kirschtorten waren ihr inzwischen so vertraut wie Scones und Cakes oder jene französischen Patisserien, die sie und Claire an ihren Plaudernachmittagen in der Bretagne gegessen hatten.

      «Sarah, kommst du?», rief Hannes, der längst aufgestanden war.

      «Moment noch. Ich muss meine Haare föhnen, sonst erkälte ich mich.»

      Sie liess sich Zeit, verteilte reichlich Feuchtigkeitscreme auf Arme und Beine. Sie dachte an Frankreich, fragte sich, wie es Claire ohne John-Pierre ergehen mochte. Ihre Tante hatte nie jemanden anderen gekannt. Er war ihre einzige Liebe gewesen. Seinetwegen hatte sie in Frankreich gelebt. Nun war Claire frei, sich ein neues Zuhause zu suchen. Wie mochte sich das anfühlen?

      Sarah schlüpfte in ihre Cordhose und zog einen warmen Pullover über.

      «Endlich»,