Sarah Penrose. Priska M. Thomas Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Priska M. Thomas Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783907146828
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um Sarah anzufragen, ob sie unter diesen aussergewöhnlichen Umständen bereit sei, sich temporär um Jens und Jessica zu kümmern, sagte sie zu.

      Dann eilte sie zu Gustav und Emma.

      «Es tut mir leid, dass ich euch im Stich lassen muss», sagte sie, nachdem sie die beiden über den gestrigen Absturz informiert und sie gleichzeitig um eine zeitweilige Verschwiegenheit gebeten hatte.

      «Ich muss unbedingt zu den Kindern. Karin schafft das nicht alleine. Herr Weisshaupt hat mich um meine Hilfe gebeten. Izzy kommt, sobald sie kann, aus den USA. Bis dann wohnen Karin und ich mit Jessica und Jens im Apartment der Familie Rothfuss im Tannwald.»

      «Natürlich. Jemand muss sich um die armen Kinder kümmern», nickte Gustav, «du stehst ihnen noch immer nah.»

      Er legte Sarah den Arm um die Schulter.

      «Jetzt pack einmal das Nötigste. Emma und ich kümmern uns um den Rest. Wenn du uns brauchst, dann rufst du an.»

      Eine Woche lang dominierten grässlichste Schlagzeilen zum Unglück die Frontseite der «Bildzeitung», während der «Blick», ein Boulevardblatt, das hier von ein paar Schweizer Gästen gekauft und gelesen wurde, neutraler titelte: Dreiköpfige Familie stirbt bei Absturz über den Vogesen.

      Sarah und Karin versuchten, das Schlimmste von Jessica und Jens fernzuhalten. Doch es war schwierig. Im Hotel herrschten Ausnahmezustand und kollektive Trauer, die sich auch auf die zu dieser Jahreszeit spärlichen Kurgäste übertrugen. Das Wetter hatte glücklicherweise gedreht. Der April zeigte seine nasse und kalte Seite, und ein paar Gäste waren vorzeitig abgereist. Jens spielte im Zwergenhort. Doch Jessica wich nicht von Sarahs Seite.

      «Kommen sie wieder zurück?», fragte das Kind, wenn sie alleine mit Sarah war, bedacht darauf, dass niemand sie hörte.

      «Nein, das tun sie nicht, Jessica», antwortete Sarah. «Sie sind jetzt alle drei im Himmel.»

      «Auch Susanne und das Baby?»

      «Ja, auch Susanne und der kleine Rudi sind jetzt im Himmel.»

      «Und wo sind unsere Zwillinge?», fragte Jessica, plötzlich misstrauisch geworden. «Ich will zu ihnen. Jetzt sofort. Und zu Mummy.»

      «Sie fliegen mit deiner Mummy aus Amerika zu uns. Sie kommen schon übermorgen an. Du musst jetzt hierbleiben, sonst verpassen sie dich noch.»

      «Versprochen?»

      «Aber bestimmt. Ich würde dich nicht anschwindeln.»

      Jessica runzelte die Stirn, und Sarah fand für sie einen Zeichenblock und den Farbkasten, damit sie den Sportflieger und ihren Daddy malen konnte.

      «Als ich klein war, verunglückte mein Daddy mit seinem Segelboot», sagte Sarah. «Damals habe ich auch viel gezeichnet. Meistens Schiffe und das Meer.»

      Am Trauergottesdienst in der evangelischen Kirche realisierte Sarah beim Anblick der beiden mit Blumen bedeckten Särge, dass das Baby in jenem der Mutter liegen musste. Sie hielt Ausschau nach Izzy, die mit ihren vier Kindern in der vordersten Reihe der Kirchenbänke sass.

      Sie war froh, dass Izzy und ihre Mutter gekommen waren und sich jetzt um die Kinder kümmerten. Sie hatte den Eindruck, Izzy sei gefasst und der Situation gewachsen. Zudem schien ihre Mutter, Mrs. Jacobs, eine resolute Frau, gewohnt, Entscheidungen zu treffen und diese auch umzusetzen.

      Sarah konnte die Menschen, die sie kannte, in der Menge nur schemenhaft ausmachen. Sie schluckte ihre aufsteigenden Tränen hinunter und beobachtete Brigitte, die sich in der Reihe vor ihr mit der rechten Hand laufend die Augen tupfte und mit der linken ein zweites Papiertaschentuch knetete. Noch nie zuvor hatte Sarah derart viele gesenkte Häupter und zuckende Schultern gesehen. Sogar die notorischen Klatschbasen, die im Ort noch kürzlich über Rudi Rothfuss und seine neue Lebenssituation getratscht hatten, weinten.

      «Wir können keine Auskunft geben, und es ist auch niemand von der Familie Rothfuss-Jacobs zu sprechen. Sie bitten um Verständnis und darum, dass die Trauerzeit respektiert wird», sagten Brigitte und Karin sowie die restlichen Hotelangestellten und auch Sarah zu jedem, der sie nach Details auszufragen versuchte. Das Hotel-Management würde zur gegebenen Zeit informieren.

      Erst eine Woche nach der Beerdigung, als Sarah und Brigitte alleine in Gustavs und Emmas Küche sassen und Kräutertee tranken, wagten die beiden, die Floskeln zu vergessen und sich endlich ehrlich zu äussern.

      «Ein Glück für Izzy Rothfuss, dass sie noch nicht geschieden war, als es passierte», raunte Brigitte. «Jetzt erbt sie alles.»

      «Stimmt, das habe ich mir so noch nicht überlegt. Aber ich bin froh, dass sie schon zwei Tage nach der Beerdigung nach New York zurückkehrte», bekannte Sarah. «Wann immer ich sie sah, wusste ich nicht, was zu ihr sagen und wie ich mich verhalten sollte. Kinder sind da einfacher.»

      «Karin und mir erging es ebenso», nickte Brigitte.

      «Das Blöde war, dass ich ihr am liebsten etwas gesagt hätte, das ich nicht sagen durfte», murmelte Sarah. «Nicht unter diesen Umständen.»

      «Was hättest du ihr denn am liebsten gesagt?»

      «Wie froh ich für die Kinder bin, dass sie nun wieder alle vier beisammen und bei ihrer Mutter sind.»

      «Aber das ist doch nicht schlimm», fand Brigitte. «Oma Bohnert sagt jeweils, wenn etwas Fürchterliches passiert: Kein Unglück ist so gross, es hat ein Glück im Schoss.»

      Sarah lernte zurzeit viele Redewendungen für ihr Deutschexamen. Alte Leute, hatte sie entdeckt, waren dafür eine Fundgrube. ‘Fundgrube’ war auch so ein anschauliches Wort, das sie sich gemerkt hatte. Gustav lachte jeweils über die Missverständnisse, wenn sie bei der Arbeit einen neu aufgeschnappten Ausdruck unpassend einsetzte. Doch was Gustav nicht realisierte, war, dass sie neben der Sprache auch neue Umgangsformen kennen lernte. Was in England als unhöflich galt, konnte hier zum Teil ausgesprochen – ausgedeutscht – werden. Oder bei Streit wurde im Schwarzwald ‘kein Blatt vor den Mund genommen’. Seit Sarah mit dem Gedanken spielte, in der Schweiz zu studieren, hörten sie und Gustav in der Backstube dann und wann den Schweizer Sender DRS1 übers Internet-Radio. Sie wusste, dass in der Schweiz wieder andere Regeln galten, sprachlich wie umgangsformlich. Hannes konnte ‘ein Lied davon singen’.

      «Hallo, hallo, Sarah!», rief Brigitte. «Ich sagte: Kein Unglück so gross …»

      «Ja, sorry», antwortete Sarah. «Mir sind soeben ein paar Redewendungen mehr eingefallen. Doch ich frage mich, ob man wirklich sagen darf: Kein Unglück sei so gross … Also ich weiss es nicht.»

      «Nun, unter uns glaube ich schon. Aber vielleicht besser nicht öffentlich», fand Brigitte. «Im Tannwald sagen einige, das Unglück sei die Strafe Gottes gewesen. Das finde ich schon sehr krass.»

      Sarah trank ein Schlückchen Tee und wartete. Brigitte würde ihr sicherlich auch das neueste Gerücht berichten. Tatsächlich verstrichen keine zwei Minuten, bis Brigitte murmelte: «Strafe Gottes hin oder her. Es gibt auch Leute, die sowas selber an die Hand nehmen.»

      «Wie bitte?» Sarah hatte vom Verdacht gehört und blickte unwissend.

      «Gewisse Leute meinen, Izzy Rothfuss habe beim Absturz nachgeholfen.»

      «Wie nachgeholfen?», fragte Sarah. «Wie soll sie nachgeholfen haben?», wiederholte sie. «Das ist doch unmöglich. Sie war in Amerika, als es passierte.»

      «Mechaniker Michael Müller, der für die Autoflotte im Tannwald zuständig ist, wartet auch die Privatmaschine der Rothfuss, also … er hat sie gewartet, bis zum Absturz. Jetzt sind es ja nur noch Trümmer.»

      «Ja und? Was sagt er?»

      «Er behauptet, er hätte Frau Rothfuss vor einem Jahr explizit auf alle Mängel am Flugzeug hingewiesen.»

      «Welche Mängel?»

      «Die Maschine hatte schlimme Korrosionsschäden. Und auch die Öl- und Treibstoffschläuche waren uralt.»

      «Und warum hat er nicht Rudi,