Als die offensichtliche.
Das ist der Unterschied zwischen einem religiösen und einem moralischen Menschen. Ein moralischer Mensch ist nur an der Oberfläche harmonisch; ein religiöser Mensch ist im Zentrum harmonisch. Ein religiöser Mensch muss notgedrungen widersprüchlich sein, ein moralischer Mensch ist immer konsequent. Auf einen moralischen Menschen kann man sich verlassen. Auf einen religiösen Menschen kann man sich nicht verlassen. Ein moralischer Mensch ist vorhersagbar; ein religiöser Mensch nie. Wie Jesus sich benehmen wird, weiß niemand – selbst seine engsten Jünger nicht, sie konnten es nicht vorhersagen. Dieser Mann ist nicht einzuschätzen: Er redet von Liebe und dann nimmt er eine Peitsche und vertreibt die Geldwechsler aus dem Tempel; er redet davon, seinen Feind zu lieben und er bringt den ganzen Tempel in Aufruhr – er ist rebellisch. Ein Mann, der von Liebe spricht, aber sich nicht daran zu halten scheint!
Bertrand Russell hat ein Buch geschrieben: „Warum ich kein Christ bin“. In diesem Buch bringt er all diese Unstimmigkeiten zur Sprache. Er schreibt: „Jesus ist widersprüchlich und scheint neurotisch. Einmal sagt er: ‚Liebe deinen Feind‘ und dann wird er plötzlich so wütend – nicht nur auf Menschen, sogar auf Bäume: Er verflucht einen Feigenbaum. Er kam mit seinen Jüngern an einen Feigenbaum; sie waren hungrig, aber die Zeit der Feigenernte war weit entfernt. Sie sahen den Baum an und fanden keine Früchte und es heißt, dass Jesus den Baum verfluchte. Was ist das eigentlich für ein Mann? Und er redet von Liebe!“
Er hat eine verborgene Harmonie, aber Bertrand Russell kann sie nicht finden, weil er der moderne Aristoteles ist. Er kann sie nicht finden, er kann sie nicht verstehen. Gut, dass er kein Christ ist; das ist nur gut. Er kann kein Christ sein, er kann kein religiöser Mensch sein, er ist ein Moralist. Jeder Schritt muss übereinstimmen – aber womit? Mit wem? Mit wem soll er übereinstimmen? Mit der Vergangenheit? „Jede einzelne meiner Behauptungen muss mit jeder anderen übereinstimmen!“, fordert der Moralist. – Warum?
Das ist nur möglich, wenn der Fluss nicht fließt. Habt ihr je einen Fluss beobachtet? Manchmal geht er nach rechts, manchmal nach links, manchmal nach Süden, manchmal nach Norden und ihr werdet sehen, dass dieser Fluss sehr unbeständig ist – aber hinter allem wirkt eine verborgene Harmonie: Der Fluss erreicht das Meer. Ganz gleich, wohin er fließt, das Meer bleibt sein Ziel. Manchmal muss er sich nach Süden wenden, weil das Gefälle nach Süden geht; manchmal muss er sich genau in die Gegenrichtung wenden, nach Norden, weil das Gefälle nach Norden geht, aber in jeder Richtung findet er das gleiche Ziel: Er bewegt sich auf das Meer zu und erreicht es auch.
Denkt euch einen Fluss, der beständig ist, und der sagt: „Ich will mich stets südlich halten, wie kann ich mich da nach Norden wenden? Dann sagen die Leute ja, ich bin nicht konsequent.“ So ein Fluss wird nie das Meer erreichen. Die Flüsse eines Russell oder Aristoteles erreichen nie das Meer; sie sind zu beständig, zu geradlinig. Und sie wissen nichts von der verborgenen Harmonie: dass man durch Gegensätze ein und dasselbe Ziel suchen kann. Das gleiche Ziel kann von entgegengesetzten Seiten angegangen werden. Diese Möglichkeit ist einem Russell gänzlich unbekannt. Aber es gibt sie dennoch. Aber das ist schwierig – du wirst laufend in Schwierigkeiten kommen. Die Leute erwarten Konsequenz von dir und die verborgene Harmonie hat nichts mit der Gesellschaft gemein. Sie gehört dem Kosmos an, aber nicht der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist Menschenwerk und die Gesellschaft hat ihr ganzes System so entwickelt, als wäre alles statisch. Die Gesellschaft hat Moralsysteme, Verhaltensmuster entwickelt, so als ob alles ohne Bewegung wäre.
Aus diesem Grund setzen sich Moralsysteme fort, über ganze Jahrhunderte hin. Alles ändert sich, nur die toten Regeln gelten weiter. Alles ändert sich unentwegt und die sogenannten Moralisten predigen unentwegt die gleichen Dinge weiter, vollkommen irrelevante Dinge, die nur mit der Vergangenheit übereinstimmen, mit nichts sonst. Absolut irrelevante Dinge leben weiter …
Zum Beispiel: In den Zeiten Mohammeds gab es in den arabischen Ländern viermal so viel Frauen wie Männer, weil die Araber Krieger waren und einander ununterbrochen bekämpften und töteten – Mörder. Und Frauen waren zu keiner Zeit so töricht wie Männer und also überlebten sie vierfach. Was also tun? Wenn es in der gesamten Gesellschaft viermal so viele Frauen gibt wie Männer, dann könnt ihr euch vorstellen, dass viele Probleme auftauchen. Also schuf Mohammed die Regel, dass jeder Moslem vier Frauen heiraten konnte … und sie halten sich noch heute an diese Regel!
Heute ist eine hässliche Angelegenheit daraus geworden, aber sie sagen, das stimme mit dem Koran überein. Die ganze Situation hat sich heute geändert, vollkommen geändert – es gibt heute nicht viermal so viele Frauen – aber sie folgen der Regel. Und was einmal ein schönes, verantwortungsvolles Eingehen auf eine ganz bestimmte historische Situation war, ist heute hässlich, absolut hässlich. Aber sie halten sich daran, denn die Moslems sind sehr beständige Menschen. Sie können sich nicht ändern; und Mohammed können sie nicht noch einmal fragen, er ist nicht mehr da. Und Moslems sind sehr listig: Sie haben die Tür für jeden weiteren Propheten geschlossen. Sonst könnte ja einer kommen und etwas tun, etwas verändern. Also ist Mohammed der Letzte – die Tür wäre selbst dann verschlossen, wenn Mohammed selber wiederkäme. Er kann nicht kommen, weil sie die Tür verschlossen haben. So ist es immer und überall.
Moralisten verschließen die Tür, weil jeder neue Prophet jedes Mal Unruhe stiftet, weil ein neuer Prophet nicht mit den alten Regeln übereinstimmen kann. Er lebt im Augenblick. Er hat seine eigene Disziplin – übereinstimmend mit der jetzigen Realität. Ohne Garantie, dass seine Disziplin auch mit der Vergangenheit übereinstimmt! Es gibt keine Garantie, es kann keine geben. Also macht jede moralische Tradition die Tür zu.
Die Jainas haben ihre Tür zugemacht: Sie sagen, dass Mahavir der Letzte ist, dass jetzt keine Teerthankaras mehr kommen. Die Moslems sagen, Mohammed ist der letzte Prophet. Die Christen sagen, Jesus ist der einzige Sohn Gottes, es kann keine weiteren Söhne Gottes geben – überall verschlossene Türen. Warum verschließen die Moralisten immer die Türen? Einfach als Sicherheitsmaßnahme; denn wenn ein Prophet kommt, ein Mensch, der nur von Augenblick zu Augenblick lebt, dann stellt er plötzlich alles auf den Kopf, er schafft ein Durcheinander, ein Chaos.
Jeder hat sich irgendwie eingerichtet: Eine Kirche, eine öffentliche Moral, eine gesellschaftliche Etikette, alles steht fest – und ihr haltet euch an die Regeln. Ihr stellt euch eine offensichtliche Harmonie an der Oberfläche her. Dann kommt plötzlich wieder ein Prophet und schafft alles neu, bringt das ganze Gefüge durcheinander; er fängt an, alles von Grund auf zu erneuern.
Ein Moralist ist ein Mensch der Oberfläche. Er ist für die Regeln da, nicht umgekehrt. Er ist für die Schriften da, nicht die Schriften für ihn. Er folgt den Regeln, aber er folgt nicht seiner eigenen Wahrnehmung. Wenn du der Wahrnehmung folgst, der reinen, unbeteiligten Wahrnehmung, wirst du zur verborgenen Harmonie vordringen. Dann störst du dich an keiner Gegensätzlichkeit, sondern du nutzt sie. Und wenn du die Gegensätzlichkeit nutzen kannst, hältst du einen geheimen Schlüssel in der Hand: Dann kannst du deine Liebe durch Hass vertiefen.
Hass ist nicht der Feind der Liebe. Er ist genau das Salz, das die Liebe erst schön macht – er ist ihr Hintergrund. Genauso kannst du dein Mitgefühl durch Zorn intensivieren; dann ist Zorn nicht bloß das Gegenteil. Und das ist es, was Jesus meint, wenn er sagt: „Liebe deine Feinde!“ Das ist die Bedeutung: „Liebe deine Feinde, denn Feinde sind keine Feinde – sie sind Freunde, sie helfen dir.“ In verborgener Harmonie gehen sie zusammen und werden eins. Wut ist dein Feind? Bediene dich ihrer, mach sie zum Freund! Hass ist dein Feind? Bediene dich seiner, mach ihn zum Freund! Erlaube deiner Liebe durch den Hass tiefer zu werden, mache ihn zum fruchtbaren Boden – und er wird zum fruchtbaren Boden. Das ist die verborgene Harmonie des Heraklit: Liebe den Feind, nutze das Gegenteil. Das Gegenteil ist nicht das Gegenteil – es ist lediglich der Hintergrund, der Kontrast.
Die verborgene Harmonie
Ist besser
Als die offensichtliche.
Heraklit ist unübertroffen.
Die verborgene Harmonie
Ist besser
Als die offensichtliche.