Aber: Erst durch diesen Widerspruch kommen die Dinge zur Harmonie. Erst wenn Gott beides ist, haben wir das Ganze. Wenn er das nicht ist, entsteht sofort die Frage: Wer ist dunkel? Wer ist Nacht, Krieg, Schmerz, Leid, Unglück? Die meisten Religionen brauchen deshalb den Teufel. Die Mönche des Mittelalters waren besessen von ihm. Je mehr sie über Gott nachdachten, desto größer wurde der Raum, der – so erschien es ihrem Verstand – unmöglich Gottes sein konnte. Dieser Raum wurde dem Teufel zugewiesen. Jesus wurde von ihm versucht. Augustinus beschwörte ihn. Die Hexenverfolger projizierten ihn auf die Frauen und verbrannten sie. Luther warf sein Tintenfass nach ihm. Noch heute kann man den Tintenfleck an der Wand sehen; generationenlang wurde er pflichtschuldigst erneuert, wenn er verblichen war. Etablierte Religionen brauchen den Teufel. Man sieht das heute an den Sektenfachleuten der Kirchen. Sie leben vom Teufel. Der verschafft ihnen ihren Unterhalt. Nicht Jesus Christus.
Heraklit – aber auch Osho – und natürlich Buddha und Laotse – wollen die Fülle des Seins. Nichts wird irgendwohin abgedrängt und dem Teufel überlassen. Alles ist Gottes: Liebe und Hass, Dunkel und Licht. Teufel ist nur ein anderes Wort für Gott. Die Sprache weiß das. Das Wort „Teufel“ geht auf die gleiche Wurzel wie Sanskrit deva, lateinisch deus und französisch dieu zurück. Die Helle des Lichtes also kommt aus der gleichen Quelle wie die Hölle der Dunkelheit. Das Ganze, das Eine ist die verborgene Harmonie, die allein unseren Ohren wahrnehmbare. Deshalb meinen die Upanishaden und so viele große spirituelle Weise und Bücher: „Das Ohr ist der Weg!“ Der Weg, um die verborgene Harmonie zu hören. Um Gott zu hören. Denn die verborgene Harmonie – das ist Gott.
Bei den Sufis, in den Upanishaden, den Zen-Weisen – überall spielt er eine ganz große Rolle. Heraklit nennt diesen „letzten Urgrund“ den Logos, ein Zentralwort des griechischen Denkens. Allein hörend – so meint er – kann er erkannt werden: „Wer den Logos nicht hört, der höre auf mich: Der Weise sieht ein, dass alle Dinge eins sind.“ Will sagen: Wenn ihr es schon selber nicht hören könnt, dann hört doch wenigstens auf mich: Alles ist eins. Genau das sagt auch Osho an.
4.
Man kann nicht über Harmonie sprechen, ohne an Musik zu denken. Von dort ist schließlich das Wort in unseren Sprachgebrauch gelangt. Harmonie in der Musik unterliegt dem Gesetz der Obertöne. Mit jedem Ton, den wir hören, steigen Obertöne auf. Ja, wir können einen Ton überhaupt nicht wahrnehmen ohne Obertöne. Er wäre sonst mehr nervendes Geräusch als lebendiger Ton. Auf der Obertonleiter erklingen zuerst die Oktave, dann die Quinte, dann nochmals die Oktave, dann Terzen und Quarten – und das sind alles „harmonische“ Intervalle. Wenn man aber die Obertonleiter weiter emporsteigt – und das geschieht zwangsläufig im musikalischen Tongeschehen –, dann kommt man zu jenen Intervallen, die unserem herkömmlichen Musikverständnis nach weniger harmonisch sind: große und kleine Sekunden, große und kleine Septimen, Mikrointervalle. Die Forderung, die in den spirituellen Traditionen der Menschheit erhoben wird, lautet: aufzusteigen auf der Obertonleiter – aufzusteigen soweit man nur kann, auch also in die „unharmonischen“ Bereiche hinein. Eben deshalb ist Obertonmusik – Musik, die bewusst mit Obertönen arbeitet, sie nicht bloß in Kauf nimmt – spirituelle Musik. Insofern es unendlich viele Primzahlen gibt, gibt es auch unendlich viele Obertöne. Jede Obertonleiter führt uns in die Unendlichkeit. Jedes bewusste Hören von Obertönen führt uns zwangsläufig aus dem Bereich jener Intervalle, die uns „harmonisch“ erscheinen, zu den schwächer und weniger deutlich erklingenden „unharmonischen“ Intervallen. In diesen Bereich sollen wir gelangen. Es ist der Bereich der „verborgenen Harmonie“. Dorthin sollen wir das Bewusstsein von Harmonie tragen, dort sollen wir Harmonie entdecken.
Kein Zweifel, das ist auch eine gesellschaftliche, damit eine politische Forderung. „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch von der nichts“, hat Hanns Eisler gesagt. Musik bedeutet mehr als nur ihre Klänge. Sie bedeutet die ganze Welt. Zur Welt gehören auch Gesellschaft und Politik. Das also ist unsere Aufgabe – nicht nur in der Musik: Durchzuhören durch die Offensichtlichkeit des Harmonischen, sich damit nicht zufrieden geben, Harmonie dort zu finden und dorthin zu tragen, wo wir sie nur mit den allerfeinsten Ohren wahrnehmen – und jedenfalls nicht sehen, fühlen, schmecken, riechen – können, wo sie aber gleichwohl verborgen ist. Wenn wir diese Aufgabe nicht erfüllen, dann hören wir auf. Das sagt uns ja die Sprache mit diesem Wort: Wir hören auf, wenn wir aufhören zu hören. Sie hätte es nicht bilden können, wenn dies nicht der „verborgene“ Sinn wäre, den sie anpeilte: aufhören zu hören – aufhören zu sein.
5.
Wir müssen deshalb auf der Hut sein, uns von jenen Menschen vereinnahmen zu lassen, die heute eine „Heile Welt“ predigen. Ganz viele Menschen des sogenannten „New Age“ tun das. Die heile Welt – das ist die Welt der offensichtlichen Harmonie. Die ganze Welt – die Welt zwar nicht der Religionen, aber die Welt Gottes – ist die Welt der verborgenen Harmonie. Die Welt, die uns im Obertongeschehen auf so eindringliche Art deutlich wird. Die Welt, die ganz feine Ohren braucht. Wer ganz genau hören will, schließt instinktiv die Augen. Das Wort Mystiker kommt von griechisch myein – die Augen schließen. Osho fordert moderne Mystiker. Er ist selbst einer.
Das New Age hat es mit der offensichtlichen Harmonie – mit der leichten, seichten, eingängigen. Das ist New Age: Harmonie ohne Disharmonie, Licht ohne Dunkel, Liebe ohne Hass, Frieden ohne Krieg, Freude ohne Schmerz, Lachen ohne Weinen, Ruhe ohne Unruhe. Immer nur die Hälfte der Dinge. Deshalb klingt auch die meiste Musik des New Age so langweilig – immer nur die Hälfte der musikalischen Möglichkeiten.
Das New Age nimmt eine Scheinwelt wahr. Sie meditieren miteinander, sie tanzen und singen miteinander – und das ist ja alles total schön –, aber sie verpassen das Ganze der Existenz und des Seins. Das New Age ist auf einen Pol fixiert: auf Licht und Liebe und offensichtliche Harmonie. Deshalb taucht sofort triumphierend am anderen Pol der Teufel auf und schreit: „Hier bin ich!“ Man kann deutlich sehen, dass er wirklich präsent ist – voller Hohn – in all dem, was da unter den Teppich gekehrt wird. Und was schon jahrhundertelang im Christentum unter den Teppich gekehrt wurde. Was die etablierten Religionen unter den Teppich kehren.
6.
Ständig ist in diesem Buch von Gott die Rede, aber dann, in einem der letzten Kapitel steht: „Ein Mensch, der richtig im Kopf ist, braucht keinen Gott … Ihr wollt nicht frei sein, ihr wollt lieber Sklaven sein und darum erfindet ihr Gott … Wenn du ohne Gott lebst, dann wirst du zu Gott, wirst Du göttlich.“
Ist das ein Widerspruch? Oberflächlich gesehen: ja! Widersprüche gibt es oft im Werk und im Denken Oshos. Die Massenpresse, die Flachdenker, die im „Spiegel“ und im „Stern“ schreiben, haben ihm das angekreidet. Osho selbst sagt: „An der Oberfläche kommt es euch manchmal so vor, dass ich mir widerspreche, aber wenn ihr nicht nur auf meine Worte hört, sondern auf mich, werdet ihr keine Widersprüche finden.“ Immer wieder lehrt er uns, dialektisch zu denken: Der Tag und die Nacht. Das Licht und das Dunkel. Die Liebe und der Hass – im Sinne Heraklits. Zusätzlich aber besitzt Osho noch etwas, was kaum einer der großen Denker und spirituellen Weisen der Menschheit besitzt: Humor.
Zum Beispiel: „Dialektik ist heterosexuell, Rationalität homosexuell.“ Das trifft nicht nur, das ist auch zum Lachen. Oder: „Wissenschaft ist Erkenntnis minus Selbsterkenntnis.“ So prägnant formulieren in der spirituellen Welt allenfalls noch die großen Zen-Meister. Nicht umsonst erzählt Osho