Wer das Ufer überschreitet, fällt in den Fluss. Dann muss er schwimmen können. Um ein Ufer überschreiten zu können, braucht man das Ufer. Um Bücher überschreiten zu können, braucht man Bücher. Wer aus Oshos Forderung, Bücher müssen überschritten werden, folgert, er brauche keine Bücher zu lesen, hat nichts verstanden.
Ich habe in den USA einen Freund, dessen Haus direkt am Mississippi steht. Da sitzt er stundenlang am Fenster und schaut auf den sich in jeder Welle wandelnden Strom.
„Ich wohne hier schon 25 Jahre lang“, sagt er, „aber der Fluss ist jede Minute anders. Du wirst süchtig, wenn du ihn anschaust. Es ist, als siehst du das Leben selbst.“
Als junger Mann war ich süchtig nach der Sprache Nietzsches. Man kann süchtig nach Oshos Sprache werden. Ich kann diejenigen verstehen, die es werden. Man steht am Ufer und schaut den Worten, Sätzen und Gedanken zu, als seien sie Wellen. Osho schwimmt in ihnen – wie jene großen chinesischen Denker, die einmal in ihrem Leben den Gelben Fluss durchschwammen. Osho schwimmt sein Leben lang durch Ströme, die so breit sind wie der Gelbe Fluss: Den Strom Laotse. Den Strom Buddha. Den Strom Jesus. Den Strom Pythagoras. Die Ströme der großen Zen-Weisen. Den Strom Heraklit.
Wer jemals durch einen Strom geschwommen ist, hat hinterher das Gefühl: jetzt ist er mein eigener. Aber er hat auch erfahren: „Man schwimmt niemals durch den gleichen Fluss.“ Das ist einer der großen Sätze Heraklits. Über die Jahrtausende hinweg wurde er immer wieder aufgegriffen – bis hin zu Hermann Hesse.
Osho: „Irgendwie müsst ihr es verstehen lernen, dieses ewige Fließen… nichts als ein Fließen, das immer weitergeht.“
Wenn der Fluss in jeder Sekunde ein anderer ist, dann ist der Mensch noch viel mehr von Sekunde zu Sekunde ein anderer. Osho zitiert Buddha: „Es gibt nichts in dir, das Dauer hat, nichts, das Wesen hat. Du bist etwas Fließendes, ein Strom.“
Man könnte an dieser Stelle auf die moderne theoretische Physik verweisen. Der Einstein-Schüler David Bohm hat das neue physikalische Weltbild des „Holomovement“ geschaffen – von holos – ganz, und movere (lateinisch) – sich bewegen. Alles ist eins und dennoch in steter Bewegung. Das genau sagt Heraklit, das sagt Osho, das sagen heute auch die Physiker. Nachdem sie jahrhundertelang das Gegenteil dessen gesagt haben, was die spirituellen Weisen meinten, sagen sie heute genau das Gleiche.
3.
Oshos Heraklit-Buch beginnt mit dem berühmtesten Heraklit-Fragment:
„Die verborgene Harmonie
ist mächtiger
als die offensichtliche…
Die Menschen sehen nicht,
dass alles, was sich widerspricht,
dadurch mit sich in Einklang kommt.“
Diese Worte sind auch Schlüsselsätze meines eigenen Denkens. Der erste, vorstehend wiedergegebene Heraklit-Satz ist eingespannt in den Kontrast zwischen den Adjektiva „verborgen“ und „offensichtlich“. Wir kennen alle die offensichtliche Harmonie: den fröhlichen Zusammenklang zwischen Menschen – das harmlose, „harmonische“ Zusammenklingen der Töne in Tagesschlagern oder Meditationsmusik – die Übereinstimmung zwischen dir und mir, die schon morgen durch Hass ersetzt werden kann. Heraklit meint, diese „offensichtliche“ Harmonie ist zwar gut und mächtig, aber es gibt eine andere Harmonie, die noch viel besser und mächtiger ist, das ist die „verborgene“.
Was könnte mit „verborgene Harmonie“ gemeint sein? Ich glaube, es ist gut, sich Heraklit im griechischen Original anzuschauen. Der vollständige Spruch umfasst nur vier Worte – halb so viel wie die deutsche Übersetzung:
Armonia aphanes phaneres kreisson.
Wahrhaftig ein Satz, an dessen gedanklicher und schriftstellerischer Prägnanz sich Generationen von Philologen die Zähne ausgebissen haben. Man spürt, dass der Satz auf das Wort kreisson zuläuft. Ich schlage in meinem Schul-Lexikon nach, das schon meinem Vater in seiner Kindheit gedient hat, und finde dort, dass es eine ganze Skala von Bedeutungen besitzt: stärker, mächtiger, gewaltiger, vorzüglicher, kräftiger, nützlicher, besser, glücklicher, überlegen, obsiegen, Sieger, Herrscher. All das schwingt mit, wenn Heraklit die öffentliche, für jedermann sichtbare, leuchtende, wohlklingende Harmonie für weniger mächtig hält als die unsichtbare, verborgene, nicht auf Anhieb erkennbare. Man könnte völlig richtig übersetzen: „Die verborgene Harmonie ist Sieger über die sichtbare“ – und hätte damit einen Spruch vom Zuschnitt Laotses.
Die beiden Worte, die im griechischen Original aufeinanderprallen wie Rammböcke, sind – das wird im Griechischen noch deutlicher als im Deutschen – Sehworte: aphanes und phaneres. Ihre gemeinsame Wurzel steckt in dem Wort phanos – die Fackel, die Leuchte. Unser Wort Fantasie ist damit verwandt; im Griechischen bedeutet es Erscheinung, Vorzeichen, Wunder, Traumbild, Gespenst. Also: Harmonie kann leuchtend sein. Wie eine Fackel. Aber dann ist sie lediglich eine Erscheinung, ein Traumbild, ein Gespenst. Mächtiger und besser als diese Art von Harmonie ist diejenige, die nicht leuchtet und die niemand sehen kann, weil sie verborgen ist. Sie ist – das macht der Komparativ kreisson deutlich – noch gewaltiger, mächtiger, trefflicher, nützlicher als die sichtbar vor aller Augen liegende „öffentliche“ Harmonie.
Das Wort armonia war auch bei den Griechen schon ein musikalisches Wort. Harmonie erklingt, wird gehört. Die mächtigere Harmonie – diejenige, die wir nicht sehen können, als sei sie eine Fackel – können wir allein durch unsere Ohren wahrnehmen. Auf diese Weise steckt gleich auch noch drin in dem Heraklit-Wort: Was wir hören können, geht tiefer, ist mächtiger, vorzüglicher, nützlicher, besser, glücklicher als das, was wir sehen können.
Dass hier nichts hineininterpretiert wird, macht der zweite Heraklit-Spruch vollends deutlich: „Die Menschen sehen nicht, dass alles, was sich widerspricht, dadurch mit sich in Einklang kommt.“ Das zu betonende Wort ist „dadurch“.
Heraklit will sagen: Die Dinge kommen eben dadurch in Einklang – in Harmonie! –, dass sie einander widersprechen. Sie sind also nicht in wahrer Harmonie, wenn ihr Einklang offensichtlich ist, wenn er nur dem Auge einsehbar und lediglich erscheinend ist. Osho – und übrigens auch Heidegger – betonen, dass diese Aussage des Heraklit das moderne Wissenschaftsdenken zutiefst angeht – und aus den Angeln hebt. Osho schreibt: „A ist A und kann niemals B sein. Dieses Prinzip des Aristoteles wurde zum Grundstein des gesamten westlichen Denkens… Liebe ist Liebe, Hass ist Hass; und Liebe kann niemals Hass sein. Das ist töricht, denn alle Liebe schließt Hass ein
– sie muss ihn einschließen; das ist naturgegeben.“
Deshalb ist die eindimensionale, logische Aussage von vornherein verkehrt. Sie ist nicht eine Aussage des Lebens. Und eine lebendige Aussage ist von vornherein unlogisch, weil sich das Leben in Paradoxien äußert. Paradoxien widersprechen sich. Was sich widerspricht, so sagen Heraklit und Osho, kommt eben dadurch – also durch die Paradoxie, nicht durch die Logik! – mit sich selbst in Harmonie. Genau diese Tatsache hat das so erfolgreiche und dennoch– oder eben deshalb – so flache abendländische Wissenschaftsdenken über-„sehen“. Indem es immer nur vorwiegend sah – die Fackel, das Leuchtende – übersah es. Und zwar übersah es den verborgenen Einklang, die nicht offensichtliche Harmonie. Deshalb auch von Osho – genau wie von Heraklit – die Höranweisung: „Höre! Aber indem du hörst, vergiss den Hörer. Werde ganz und gar hörend. Nur Ohren und Ohren und Ohren. Als verwandelte sich dein ganzer Körper in Ohren. Du wirst zwei riesengroße Ohren – und sonst nichts. Deine Augen hören, deine Hände hören. Deine Füße hören. Jede Zelle deines Wesens soll hören.“