Räume geben Bewegungen und Haltungen vor: Wie bewege ich mich durch den Raum, welche Gefühle werden geweckt, wer bin ich?
Ich spreche hier von der „Macht der Architektur“, die uns bestimmt – sei es in der Kirche, in der Shopping-Mall, in unserer Wohnung, am Arbeitsplatz ... . Wer Verantwortung für einen Kirchenraum trägt, muss sich immer wieder der Frage stellen: Welche Inhalte vermittelt der Raum? Werden damit die Inhalte des Evangeliums verkörpert oder werden andere Botschaften ausgesendet?
Unsere Hoffnung für die Zukunft von Kirchenräumen ist, dass die große Kraft, die sie haben, positiv und bewusst genutzt wird.
6: Das Projekt „Längster Altar der Welt“ wurde mit allen 72 Stuttgarter Kirchengemeinden zur Eröffnung des Kirchenkreises durchgeführt. Idee, Entwurf und Bauleitung: Architektenteam Kirchentrojaner Projektleitung insgesamt: Claudia Trauthig und Petra Dais.
7: Vgl. Beschreibung Werkstatttage auf den Seiten 44-57.
Bernd Wildermuth
Gottesdienst, Partizipation und Selbstbestimmung
Zugegeben, man kann sich diesem Thema organisationstheoretisch nähern und sagen, Gottesdienst und Selbstbestimmung kommen überall dort zusammen, wo Jugendliche ihren Gottesdienst gestalten. Das heißt: Jugendliche entscheiden was gesungen, gelesen, gepredigt und gebetet wird. Sie entscheiden, wie viele Personen aktiv beteiligt werden und ob der Gottesdienst so etwas wie eine offene Phase mit mehreren Stationen hat, wo die Teilnehmenden nach ihrem Bedürfnis und ihrem Empfinden entscheiden können, was sie jetzt im Gottesdienst tun. Sie werden zu aktiv Beteiligten8 ganz so wie es Paulus den Korinthern ans Herz legt: „Wenn ihr zusammenkommt, kann jeder_r etwas beitragen: einen Psalm, eine Lehre, eine Offenbarung, eine Rede in fremden Sprachen oder eine Deutung dazu.“ (1. Kor 14,26 nach der Übersetzung der BasisBibel)
Das ist die Betrachtung der Oberfläche des Gottesdienstes. Gottesdienst ist aber eine ganz besondere Kommunikationsform. Es ist noch jemand zu Gast, der für einen nüchternen Betrachter weder sichtbar noch hörbar ist – Gott, in all seinen Erscheinungsformen als Vater, als Sohn, als Heiliger Geist. Jeder Gottesdienst ist in seinem Kern Begegnung mit Gott.9 Die gesungenen Lieder und die gesprochenen Worte konstituieren eine besondere Zeit und einen besonderen Raum, der eine Wirklichkeit offenbart, die dem menschlichen Zugriff entzogen ist. Das ist auf den ersten Blick paradox. Menschen – und das gilt natürlich auch für Jugendliche – feiern Gottesdienst und in und mit dieser Feier geschieht Gottesbegegnung, die dem menschlichen Tun und Wollen entzogen ist. Ließe sich Gott in beliebiger Weise herbeisingen, sprechen oder tanzen, dann hätten wir es nicht mit Gottesdienst, sondern mit Magie zu tun. „Als irdische Geschöpfe können wir nicht auf Gott rechnen, wir können Gott nicht ‚haben‘. Stattdessen befinden wir uns immer im Zustand der Bedürftigkeit und Abhängigkeit von Gott …“.10 Diese Kommunikation geschieht aber immer in der „durch Erfahrung begründeten Erwartung, dass sich in, mit und unter menschlichem Verhalten göttliches Handeln vollziehen wird“.11
Die Hoffnung vieler, die den Gottesdienst besuchen ist, dass sie das erleben und erfahren. Partizipation bekommt unter diesem Blickwinkel eine neue Qualität: Gott bemächtigt sich meiner Person und ich habe Teil am Wirken Gottes in der Welt. Etwas von dem Glanz Gottes soll auf die im Gottesdienst handelnden Menschen übergehen und „menschliche Ohnmacht an göttlicher Macht partizipieren“.12 Auch wenn es für aufgeklärte Protestant_innen keine durch Weiheakte aus der sozialen Wirklichkeit ausgegrenzten heiligen Räume und Zeiten mehr gibt, haben sie dennoch die Hoffnung auf die Vergegenwärtigung des Heiligen in der Welt nicht aufgegeben. Die Gottesdienstbesuchszahlen am Heiligen Abend und das Aufleben der Osternachtfeier in vielen Gemeinden mit einer ausgeprägten Partizipationskultur sind ein Zeugnis für diese Hoffnung. „In der gottesdienstlichen Praxis besteht ein Widerspruch zwischen Verhalten und theologischer Reflexion.“13 Dieser Widerspruch lässt sich weder durch den Versuch der Wiederherstellung einer heilen und heiligen Gottesdienstwelt noch durch Profanisierung auflösen. „Wir stehen an der Grenze zwischen verlorener Sakralität und drohender Profanität.“14 Es ist genau dieser Zwischenraum, der Beteiligungsspielräume eröffnet, die jenseits der Zelebration traditionsfixierter Rituale, aber auch jenseits einer appellativen und moralisierenden Gesetzlichkeit liegen. Dieses Spiel hält die Sehnsucht nach der Vergegenwärtigung des Heiligen wach.
Das zeigt sich besonders im Verhältnis zum Kirchenraum. Die evangelische Kirche ist kein heiliger Ort mehr, sie ist aber auch nicht einfach nur ein Gemeindeversammlungsraum. Das ist auch für Jugendliche so. Bei einer Umfrage unter über 1000 Jugendlichen im Jahre 2000 sagten über die Hälfte der Befragten, der geeignete Raum für einen Jugendgottesdienst sei die Kirche. Die beiden anderen Antwortmöglichkeiten ‚Gemeindehaus‘ und ‚Jugendhaus‘ wurden jeweils von weniger als einem Drittel der Befragten angekreuzt.15 Der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden spiegelt diese Sehnsucht nach sakralen Symbolen in einer säkularisierten Welt auf eindrucksvolle Weise wieder. In dem Bürgerwillen, der den Abtransport der Steine zu DDR-Zeiten verhinderte und der nach der Wende über zwei Jahrzehnte Millionen Spendengelder zusammentrug, zeigt sich noch eine ganz andere Form der Beteiligung und „Aneignung“, die schlicht und ergreifend lautet: „Das ist unser Haus.“16
Was Dresden auf der großen gesellschaftlichen Bühne gezeigt hat, das gilt auch im Spielhaus der kleinen Ortsgemeinde. Können sich die Gottesdienstbesucher_innen und insbesondere Jugendliche ihren Spielort aneignen? Weder vorgeschriebene Formierungen nach dem Motto „Konfirmand_innen sitzen bei uns immer vorne rechts in den ersten beiden Reihen!“ noch Zwangsbeglückungen im Stile der 70er und 80er Jahre – „Jetzt knüpfen wir alle gemeinsam mal ein Friedensnetz!“ – sind dabei hilfreich. Offene und unaufdringliche Angebote können helfen, die Zugänge zu dem oben beschriebenen Spielraum offen zu halten. Die Grundhaltung dazu ist: „wenn ihr zusammenkommt, kann jede_r etwas beitragen …“
8: Vielfaches Vorbild für Stationen-Gottesdienste ist die sogenannte Thomas-Messe, deren oberstes Leitmotiv ist, dass jedes Gemeindeglied aktiv teilnimmt. Vgl. Christian Grethlein, Auf der Suche nach Formen – Neue Ansätze, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber u.a. (Hrsg.): Handbuch der Liturgik, 3. vollständig neu bearbeitete Aufl. Göttingen 2003, S. 889-891.
9: So lautet auch die erste These des aej-Thesenpapiers ‚Jugendgottesdienst als Gottesdienst‘. www.evangelische-jugend.de/fileadmin/user_upload/aej/Glaube_und_ Leben/Downloads/11_01_21_Jugendgottesdienst_als_Gottesdienst.pdf.
10: John R. Franke, Barth für zwischendurch, Göttingen 2008, S. 6
11: Manfred Josuttis, Der Weg in das Leben – eine Einführung in den Gottesdienst, München 1991, S. 104.