4 VERSTEHEN STATT ERKLÄREN
WILHELM DILTHEY
»Verstehen statt erklären« lautete sein Motto. Wilhelm Dilthey hat die Geisteswissenschaften im Gegenüber zu den Naturwissenschaften methodisch auf eine neue Grundlage gestellt und mit seiner »verstehenden Psychologie« ein Gegengewicht zur experimentalpsychologischen Betrachtungsweise geschaffen.
WEG
Auch Wilhelm Dilthey ist, wie viele Gelehrte seiner Zeit, ein Pfarrerssohn. Geboren 1833 im rheinischen Biebrich, studiert er unter anderem Geschichte, Philosophie und Theologie. Nach dem ersten theologischen Examen und der staatlichen Schulamtsprüfung arbeitet er zunächst als Lehrer, zieht sich jedoch 1857 aus dem Schuldienst zurück, um sich ganz der Wissenschaft zu widmen. 1864 wird Dilthey mit einer Arbeit über die Ethik Schleiermachers promoviert, im selben Jahr habilitiert er sich mit einer Abhandlung über das »moralische Bewusstsein«. Es folgen Professuren in Basel, Kiel, Breslau und von 1883 bis 1908 in Berlin. Dilthey gilt als unglaublich arbeitsam. Bei seinem Tod im Jahr 1911 in Seis am Schlern hinterlässt er eine umfangreiche Bibliografie: Die derzeit erscheinende Ausgabe seiner Gesammelten Werke umfasst bislang 26 Bände.
IDEEN
Um das Jahr 1890 herrscht in der Psychologie eine klare Tendenz vor: Sinneserlebnisse werden in kleinste Einheiten (Elemente) zerlegt, die Bewusstseinsinhalte werden auf diese Elemente zurückgeführt, komplexere Prozesse erklärt man durch eine assoziative Verknüpfung der kleineren Einheiten. Gegen diese Elementar- oder Assoziationspsychologie wendet sich Wilhelm Dilthey. Für die nachfolgende Geistesgeschichte erwirbt er sich dadurch große Bedeutung.
Diltheys Zeit ist geprägt vom Siegeszug der Naturwissenschaften. Der Positivismus, jene philosophische Richtung, welche die Erkenntnisfähigkeit auf das beschränkt, was durch die Sinne erfahrbar und letztlich messbar ist, hat seinen Siegeszug angetreten. Mit ihrem Anspruch des Analysierens stellen die Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften, etwa die Geschichtsschreibung, in Frage: Georg W. F. Hegel (1770–1831) konnte hinter den Einzelereignissen der Weltgeschichte noch ein höheres Ganzes sehen, das sich stufenweise verwirklicht. Wilhelm Dilthey ist das zu seiner Zeit nicht mehr möglich, die Historie löst sich ihm in lauter geschichtlich bedingte Einzelerscheinungen auf (historischer Relativismus). Dies entspricht dem geschilderten Elemente-Denken der Psychologie jener Zeit, wie es die klassischen Assoziationspsychologen vertreten.
Doch Dilthey findet zur Einheit des Ganzen zurück: in der so genannten Lebensphilosophie, deren wichtigster deutscher Vertreter er wird (für Frankreich ist hier Henri Bergson, 1859–1941, zu nennen). Die Lebensphilosophie trauert dem absoluten Sein, das sich restlos in die Vielfalt der historischen Erscheinungen aufgelöst hat, nicht mehr nach. Stattdessen versucht sie, jenes Werden und Vergehen als Bewegung des Lebens selbst zu erkennen und zu würdigen: Trotz seiner Prozesshaftigkeit sei das Leben eben doch mehr als bloß die Summe seiner Einzelerscheinungen. Diese Sichtweise führt im Grenzbereich der Biologie zum so genannten Vitalismus mit seiner Annahme einer zielgerichteten natürlichen Lebenskraft. In der Psychologie wird sie später die Gestalttheorie (s. Kap. 6) beeinflussen. Doch zunächst bringt sie durch die Arbeit Diltheys einen Gegenentwurf zur zeitgenössischen, naturwissenschaftlich orientierten Assoziationspsychologie hervor.
Wilhelm Dilthey denkt ganzheitlich, wie man heute sagen würde. Er stellt fest, dass eine rein elementarisierende Betrachtungsweise das Eigentümliche der menschlichen Seele verkennt. Diese ist für ihn nämlich eine komplexe Struktur, bestehend aus dem Willen, aus Gefühls- und Triebleben und aus der Intelligenz. Der Mensch ist ein Lebewesen, das will, fühlt und sich etwas vorstellt. Dieser Strukturzusammenhang bewirkt, dass psychische Prozesse immer auch Sinn- und Wertaspekte beinhalten. Psychisches Leben steht deshalb nicht einfach reproduzierbar und messbar zur Verfügung. Stattdessen lässt es sich aus seinem vielfältigen Ausdruck – aus Aussagen, Handlungen und der Äußerung unmittelbarer Erlebnisse – erschließen. Es kann nicht erklärend in isolierte Wahrnehmungselemente zerlegt, sondern muss als Ganzes verstanden werden: Dilthey fordert statt der »erklärenden« eine »verstehende«, eine geisteswissenschaftliche Psychologie, die sich um Wesenserkenntnis bemüht. Daneben etabliert er eine vergleichende Forschung, die eine überindividuelle Typenlehre herausarbeitet.
Seitenblick: Dilthey hat den Geisteswissenschaften eine eigene methodische Grundlage erschlossen und ihnen damit zu neuem Selbstverständnis und zur Selbstständigkeit gegenüber den Naturwissenschaftgen verholfen. Die Lehre vom deutenden Verstehen aus dem Gesamtzusammenhang heraus (Hermeneutik) hat die Philosophie befruchtet bis hin zu Martin Heidegger (1889–1976) und Hans-Georg Gadamer (1900–2002). Auf dem Gebiet der Psychologie hat Diltheys Schüler Eduard Spranger (1882–1963) den typologischen Ansatz weiter ausgearbeitet, etwa in seinen 1914 erschienenen »Lebensformen«. Auch der Psychiater und spätere Existenzphilosoph Karl Jaspers (1883–1969) baut in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« (1919) auf Dilthey auf.
5 DEM GEDÄCHTNIS AUF DER SPUR
HERMANN EBBINGHAUS
Mit ihm wandte sich die Psychologie der experimentellen Gedächtnisforschung zu. In disziplinierten Selbstversuchen erforschte Hermann Ebbinghaus die Gesetze des Behaltens und Vergessens. Von ihm stammt auch der erste Intelligenztest für Kinder.
WEG
Der 1850 geborene Unternehmersohn Hermann Ebbinghaus aus Barmen gehört zu den Wegbereitern der experimentellen Psychologie. Wie Fechner und von Helmholtz will er psychologische Phänomene durch Messungen exakt bestimmen. Doch wo Fechner die Reizverarbeitung im Blick hatte, interessiert ihn die Leistung des menschlichen Gedächtnisses.
Vom Studium her ist Ebbinghaus Philosoph, in diesem Fach wird er 1873 in Bonn promoviert. Er geht nach Berlin, studiert Mathematik und Naturwissenschaften, reist viel und arbeitet als Privatlehrer, zuletzt beim Prinzen Waldemar von Preußen. Nach dessen Tod 1879 beginnt er mit den oben beschriebenen Selbstversuchen, deren Ergebnisse er in seiner 1880 an der Berliner Universität eingereichten Habilitationsschrift niederlegt. Einer seiner Gutachter ist übrigens Hermann von Helmholtz (s. Kap. 2).
Nun beginnt Ebbinghaus’ wechselvolle akademische Laufbahn. Er vertieft seine Gedächtnisforschung im ersten, von ihm eingerichteten Berliner Laboratorium für experimentelle Psychologie – was aufgrund der Notwendigkeit, Lern- und Vergessensphasen genau einzuhalten, eine eher stereotype Lebensweise und somit einige Opferbereitschaft erfordert. Als Mitherausgeber der ersten deutschsprachigen »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane« fördert er die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Psychologie.
1894 geht Ebbinghaus nach Breslau. Hier entwickelt er im Auftrag des städtischen Magistrats den ersten Konzentrations- und Leistungstest für Kinder, auch als Ebbinghaussche Lückenprobe bezeichnet, weil in einem Text Lücken ergänzt werden müssen. Die Tests werden gebraucht, um Befürchtungen zu widerlegen, die Schüler könnten durch die ständigen geistigen Anforderungen während des Unterrichts überlastet werden.
1905 wechselt Hermann Ebbinghaus nach Halle. Hier stirbt er bereits vier Jahre später an einer Lungenentzündung.
IDEEN
Ein Mann sitzt in seinem Studierzimmer und murmelt sinnlose