Das Ich muss nun zwischen den Forderungen von Es und Über-Ich vermitteln und dafür sorgen, dass beide in angemessener Weise zu ihrem Recht kommen. Es muss die beiden anderen Instanzen kontrollieren, damit aus dem Zusammenspiel aller psychischen Kräfte ein einheitliches und der Situation angemessenes Verhalten entsteht – ein starkes Ich funktioniert nach dem so genannten Realitätsprinzip.
Seine Erkenntnis, dass das Ich vom Unbewussten überwältigt werden kann und »nicht Herr im eigenen Haus« ist, hat Freud selbst als die dritte, die psychologische Kränkung der Menschheit bezeichnet. Die erste Kränkung war die kosmologische durch Kopernikus, der den Menschen vom Mittelpunkt des Universums an dessen Rand rückte. Die zweite Kränkung ist die biologische, verursacht durch Darwin, der den Menschen in den Prozess der Evolution einreihte und ihm damit seine Einzigartigkeit nahm.
Freud selbst hat immer gehofft, dass seine Modelle eines Tages neurobiologisch bestätigt werden würden. Alles deutet darauf hin, dass von dieser Hoffnung mehr in Erfüllung gehen könnte, als seine Kritiker jemals annahmen. Dass das »Ich nicht Herr im eigenen Haus« ist, diese Kränkung des aufgeklärten Menschen wird von der Hirnforschung mittlerweile bestätigt. Und man weiß heute, dass nicht nur Medikamente unser Gehirn verändern können, sondern auch die Psychotherapie.
Eine Psychoanalyse bedeutet harte Arbeit, denn der Zugang zu den frühen Konflikten macht Angst und ist mit Widerständen verbunden. Es fällt zunächst schwer, ohne Zensur alles zu erzählen, was in der Seele aufsteigt, in freier Assoziation, ohne Rücksicht auf Konvention und erlernte Moral. Bei der klassischen Psychoanalyse liegt der Patient auf einer Couch. Hinter deren Kopfende sitzt der Analytiker, hört, möglichst wertfrei und annehmend, zu und deutet das Erzählte sehr vorsichtig, indem er es in einen neuen, weiteren Kontext stellt. So hilft der Therapeut dem Patienten, sich selbst besser zu verstehen.
Der Analytiker ist auch die Bezugsperson, mit der ein Patient seine frühen Konflikte noch einmal erlebt – in der so genannten Übertragung. Unterstützt vom Therapeuten und aufgrund seiner neuen Erfahrungen in der Gegenwart kann der Patient die alten Konflikte nun nicht nur verstandes-, sondern vor allem auch gefühlsmäßig besser bewältigen als zuvor. Die krank machenden Abwehrstrategien werden überflüssig, und die Energie kann dorthin fließen, wo sie hingehört: in die angemessene Befriedigung der Bedürfnisse.
Die klassische Psychoanalyse dauert mehrere Jahre und umfasst heute in der Regel drei bis vier Stunden pro Woche. Doch gibt es mittlerweile auch kürzere psychoanalytische Therapien, die nicht unbedingt im Liegen und meist mit ein bis zwei Stunde pro Woche durchgeführt werden. Die Wirksamkeit der psychoanalytischen Therapie ist durch Studien belegt. Seit der Zeit Sigmund Freuds haben sich zahlreiche andere Therapieformen unter dem Einfluss, aber auch in Abgrenzung von der Psychoanalyse entwickelt. Psychoanalytische Behandlungen werden hierzulande heute in der Tradition nach Freud, nach Alfred Adler und nach C. G. Jung angeboten.
Als Naturwissenschaftler, als Nervenarzt, hatte Sigmund Freud begonnen. In der Psychoanalyse hat er die Grenzen der Naturwissenschaft weit überschritten und das gesamte gesellschaftliche und kulturelle Leben bis in die Künste hinein beeinflusst. Neben der Bedeutsamkeit der unbewussten Prozesse im Seelenleben verdanken wir ihm die Erkenntnis, wie wichtig die Kindheit für die Entwicklung eines Menschen ist. Manche von Freuds Theorien sind zeitgebunden gewesen und heute überholt, etwa seine Ansichten über die Sexualität der Frau. Auch ist man insgesamt dahin gekommen, die Bedeutung der Sexualität für die Persönlichkeit weniger absolut zu sehen als er. Doch bis heute steht die Psychoanalyse auf dem von Sigmund Freud gelegten Fundament.
Übrigens: Freud hat auch das Alltagsleben untersucht und festgestellt, wie das Unbewusste im Vergessen und Versprechen wirkt. Die »Freudsche Fehlleistung«, die er 1901 in der »Psychopathologie des Alltagslebens« beschreibt, ist heute jedem ein Begriff. Sie entsteht, wenn jemand etwas anderes sagt, als er eigentlich fühlt, und das Zurückgehaltene sich dennoch Bahn brechen will – was dann zum Versprecher führt.
Seitenblick: Das berühmt gewordene Foto vom Weimarer Kongress 1911 zeigt in der ersten Reihe eine auffallend schöne Frau mit Pelz. Es ist Lou Andreas-Salomé (1861–1937), eine russische Schriftstellerin, die mit ihrem Mann, einem Orientalisten, in Göttingen lebte. Ihr Intellekt und ihr Verständnis für die Psychoanalyse faszinierten Freud. Lou Andreas-Salomé wurde eine der ersten Analytikerinnen in Deutschland und später auch eine enge Brieffreundin von Freuds jüngster Tochter Anna. Sie war unter anderem deshalb zur Psychoanalyse gestoßen, weil sie für den Dichter Rainer Maria Rilke (1875–1926), mit dem sie zeitlebens eng befreundet und zeitweise liiert war, Hilfe suchte. Rilke lehnte eine Analyse jedoch stets ab: Er fürchtete, mit seinen seelischen Problemen auch seine Kreativität zu verlieren.
8 INTERESSE FÜR DAS ICH
ALFRED ADLER
Er gehört zu den Pionieren der Tiefenpsychologie und hat nach seiner Abkehr von Freud eine eigene Richtung begründet: die Individualpsychologie. Alfred Adlers optimistisches, auf die Selbstverwirklichung ausgerichtetes Menschenbild wirkt in Therapie, Beratung und Pädagogik bis heute.
WEG
Als Sohn eines jüdischen Getreidehändlers wird Alfred Adler 1870 in Rudolfsheim bei Wien geboren. In der Kindheit leidet er an Rachitis und wiederholten Stimmritzenkrämpfen und wird deshalb von der Mutter allzu sehr umsorgt – diese Erfahrung schlägt sich später in seinem psychologischen Ansatz nieder. Adler studiert in Wien Medizin und eröffnet eine augenärztliche, später auch allgemeinmedizinische Praxis in einem Wiener Arme-Leute-Bezirk. Zeitlebens steht er dem Sozialismus nahe – wie er überhaupt die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen der Menschen stärker in den Blick nimmt als Sigmund Freud (s. Kap. 7). So veröffentlicht er 1898 ein »Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe«.
1902 kommt es zum persönlichen Kontakt mit Freud. Adler gehört zu den ersten vier Mitgliedern der Mittwochsgesellschaft, einer Gruppe von Analytikern der ersten Generation, die sich seit 1902 immer mittwochs in Freuds Praxis trifft. In der psychoanalytischen Bewegung hat er bald eine führende Position inne. Dennoch ist er nie Freuds Schüler, sondern vertritt stets eigene, mitunter abweichende Meinungen. Damit wirkt er auch inspirierend auf Freud, trägt etwa zu dessen zunehmender Beachtung des Ich als eigener Instanz bei.
Mit der Zeit werden jedoch nach einigen Vorträgen Adlers die inhaltlichen Differenzen so offensichtlich, dass dieser 1911 den Kreis um Freud verlässt. Er gründet seine eigene Gesellschaft, den Verein für Individualpsychologie. Mit diesem Begriff möchte er deutlich machen, dass er den Menschen als Einheit sieht und ihn nicht in einzelne Triebe oder Instanzen zergliedert. Die Analytiker müssen fortan zwischen den beiden Richtungen wählen. Als eine von wenigen kann die Göttinger Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé (1861–1937) sich zeitweise eine Doppelmitgliedschaft erlauben, bevor sie sich für Freud entscheidet.
Neben seiner ärztlichen Arbeit betätigt Adler sich vor allem als Reformer, Vortragsredner und Organisator, er engagiert sich in der Fortbildung von Pädagogen und gründet zahlreiche Erziehungsberatungsstellen. Dies liegt in seinem psychologischen Verständnis begründet, wonach die Erziehung der Entstehung von Neurosen vorbeugen muss. In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird Adlers Individualpsychologie mit ihrem volksbildnerischen Ansatz zur maßgeblichen Richtung im sozialdemokratisch geprägten Wien. Bereits 1912 hat Adler sein Hauptwerk »Über den nervösen Charakter« veröffentlicht. 1924 erscheint »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, 1932 das Spätwerk »Der Sinn des Lebens«.
Nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich emigriert Adler, der zuvor schon Gastprofessuren in den USA innehatte, 1935 endgültig dorthin. Zwei