Die Einsamkeit des Bösen. Herbert Dutzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Herbert Dutzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783709937617
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legte.

      Da war aber noch etwas, das sie mit der Direktorin besprechen wollte. „Eigentlich wollte ich sofort zur Polizei, um den Überfall anzuzeigen. Denn das war es ja. Ein Überfall.“ Frau Wintersteller legte ihr Kinn in die linke Hand. „Hm. Überlegen Sie sich das noch einmal. Strafmündig ist der Basti ja ohnehin nicht, und wenn die Polizei bei ihm zu Hause auftaucht, bezieht er wahrscheinlich wieder Prügel von seinen Eltern. Gewaltspirale.“ Alexandra brauste auf. „Soll der denn völlig ungeschoren davonkommen?“ Das sah sie nicht ein. Frau Wintersteller schüttelte den Kopf. „Wenn wir das Jugendamt einschalten, hat die Familie genug Ärger am Hals. Mehr erreichen wir mit der Polizei auch nicht. Außer, es geht Ihnen um Schadenersatz oder Schmerzensgeld.“ Alexandra schämte sich plötzlich. Um Geld konnte, durfte es nicht gehen. Hatte sie in den Augen der Direktorin diesen Eindruck erweckt? Andererseits – wer viel Geld hatte, durfte keinen Ersatz für erlittenen Schaden verlangen? Sie war, wie so oft in den letzten Tagen, völlig verunsichert.

      „Guten Morgen!“ Alexandra legte ihre Handtasche auf dem Schreibtisch ab, als sie ein eiskalter Blick von Sophie traf. „Morgen!“, murmelte die, um sofort wieder auf ihren Monitor zu starren. „Ist was?“ Alexandra war ratlos. Was war nur in Sophie gefahren? Konnte es sein, dass sie auch … „Was ist los?“, fragte sie noch einmal. Am besten war es, das Problem sofort und direkt anzusprechen. „Nichts!“ Sophie wandte keinen Blick von ihrem Bildschirm ab. „Nur, dass ich gedacht habe, wir wären Freundinnen!“, zischte sie, als Alexandra ihr gegenüber vor ihrem Bildschirm Platz genommen hatte. „Sind wir auch!“ Alexandra rückte ein Stück nach links, um Sophie in die Augen sehen zu können. „Einer Freundin erzählt man aber, wenn etwas Wichtiges passiert!“

      Alexandra seufzte und stützte sich mit den Ellbogen auf ihre Schreibtischplatte. „Du hast von unserem Gewinn gehört?“ „Wer nicht?“, gab Sophie giftig zurück. Noch immer hatte sie ihre Blicke stur auf den Monitor geheftet. „Sophie …“, begann sie, doch sie konnte nicht weiter. Was sollte sie ihrer Freundin erklären und wie? Dass sie selbst nur Ärger gehabt hatte, seit die Gewinnnachricht ins Haus getrudelt war? Dass man Max verprügelt hatte, nur wegen des Geldes? Dass sie das ganze Geld am liebsten zurückgeben würde? Kein Mensch würde ihr glauben, auch nicht Sophie.

      „Ich wollte es dir ja sagen, ich wusste nur nicht, wann und wie. Ich hab einfach noch keine passende Gelegenheit dazu gefunden. Ich bin ja selber noch ganz durcheinander!“ „Anscheinend nicht so durcheinander, dass du nicht die halbe Stadt darüber informieren hast können. Man hört, du kaufst sämtliche Designerläden leer!“ „Sophie …!“ Es war sinnlos, diese Debatte jetzt zu führen. Vielleicht konnte sie in aller Ruhe einmal mit Sophie darüber reden, wie es ihr in den letzten Tagen ergangen war. Aber wann hatten sie diese Ruhe, und vor allem, würde Sophie ihr zuhören und dann auch noch glauben?

      Resigniert machte sie sich an ihre Arbeit, doch mit der Konzentration war es nicht weiter her als an den letzten Tagen. Die Texte perlten an ihr ab, sodass sie jede Seite mehrmals lesen musste, ohne danach brauchbare Änderungs- oder Streichungsvorschläge machen zu können. Dabei war ihre Arbeit das, was ihr noch am meisten Halt bot, weil sich daran nichts geändert hatte. Nur alles andere …

      In Gedanken rekapitulierte sie. Was hatte sie bis jetzt von dem Gewinn gehabt? Ein Paar schöne Schuhe, die sie nicht anzuziehen wagte, weil jedem, zumindest jeder Frau, auffallen musste, dass sie wesentlich teurer waren als die Schuhe, die sie gewöhnlich trug. Das allein hatte schon genügt, um Gerüchte über ihren Kaufrausch in Umlauf zu setzen. Nun würde man natürlich genau darauf achten, was sie in Zukunft trug. Weitere Folgen des Gewinns waren: schlaflose Nächte, ein Mann, der sich nur mehr für kostspielige Konsumwünsche interessierte, ein verprügeltes Kind, miserable Arbeitsleistung, schlaflose Nächte und eine Freundin weniger. Ach ja, eins hatte sie auf der Haben-Seite vergessen: Das Klo war repariert worden. Wenigstens was.

      „Kommst du bitte einmal zu mir ins Büro?“ Martins Miene war ernst. Was war jetzt schon wieder los? Sie setzte sich in den Stuhl gegenüber seinem Schreibtisch. „Alexandra, zum einen: Du wirkst in den letzten Tagen sehr unkonzentriert. Wenn man dich anspricht, weichst du aus, du flatterst hektisch herum. Ist dir das nicht selbst aufgefallen?“ Alexandra nickte. Ihr kamen schon wieder die Tränen. „Könnte das alles mit eurem Lottogewinn zu tun haben?“ Martin faltete die Hände über seinen aufgestützten Ellbogen ähnlich wie die deutsche Bundeskanzlerin. Wieder nickte sie, die Tränen begannen zu fließen. „Ich halt es nicht mehr aus!“, hauchte sie. Und dann erzählte sie, ohne dass Martin sie unterbrach, was in den letzten paar Tagen alles schiefgelaufen war. Sie ließ nichts aus, und Martin unterbrach sie nicht. Seine Miene blieb ernst.

      „Eigentlich wollte ich dir ja gratulieren, jetzt, wo ich weiß, dass ihr mehr gewonnen habt als bloß eine Gewürzmühle“, sagte er schließlich. „Aber es hört sich nicht so an, als ob du dafür empfänglich wärst.“ Alexandra wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Martin reichte ihr ein Taschentuch. „Danke. Aber warum hast du mich eigentlich hergeholt?“ Er seufzte. „Erstens müssen wir reinen Tisch machen. Du musst mich und alle anderen Mitarbeiter korrekt informieren, allein schon, damit die Gerüchte aufhören zu blühen.“ „Aber die Beraterin hat gemeint, ich solle das nicht tun!“, wehrte sich Alexandra. Martin zuckte mit den Schultern. „Ich halte das für das Betriebsklima für unerlässlich. Außerdem könnte ich verstehen, wenn du angesichts der Umstände eine gewisse Auszeit …“ Das Wort war noch nicht verklungen, als Alexandra aufsprang. „Du willst mir meinen Job wegnehmen? Weil ich jetzt Geld habe?“ Sie sank wieder auf den Stuhl und begann, diesmal hemmungslos, zu schluchzen. „Die Arbeit ist das Einzige, was mich noch aufrecht hält! Das, was noch normal ist in meinem Leben! Und jetzt ziehst du mir den Boden unter den Füßen weg. Du und Sophie! Dabei hab ich doch nur versucht, alles richtig zu machen!“

      Heulend floh sie aus Martins Büro, schnappte ihre Handtasche, ohne zu Sophie aufzusehen, und stürmte hinaus. „Alex!“, schrie ihr Sophie noch hinterher. Aber sie konnte jetzt nicht umkehren, jetzt nicht.

      Heute Nacht habe ich geträumt, ich wäre allein mit Mama. Wir waren in der Stadt, sie hat mich an der Hand genommen, wir sind über Zebrastreifen gegangen, Rolltreppen hinunter und wieder hinauf. Und im Traum war ich mir ganz sicher, dass wir auch allein sein werden, wenn wir wieder nach Hause kommen. Ich bin mir ganz sicher, dass es in meinem Traum keinen Papa gab. Mir war ganz leicht zumute, ohne Sorgen, ich kann es gar nicht näher beschreiben. Und dann, als ich wach wurde, war es wie ein Schock für mich, dass ich mich in meinem Zimmer fand, Papa nur durch eine Wand von mir getrennt. Ich habe vor Wut geheult und mir die Decke wieder über den Kopf gezogen. Wie schön es ohne Papa wäre.

      Ich beobachte Papa jetzt regelmäßig. Was er tut, wohin er geht, welche Wege er benutzt, welche Geräte. Wie viel er trinkt. Und es dauert nicht lang, bis mir gute Ideen kommen. Papa ist nicht besonders vorsichtig. Genauer gesagt, er missachtet so ziemlich alle Sicherheitsvorschriften, die man sich vorstellen kann. Ich lese die nämlich. An jeder Maschine steht genau, was man tun darf und welche Schutzkleidung man braucht und so weiter.

      Zuerst denke ich an die Jauchegrube. Viele Bauern sind schon in die Jauchegrube gefallen und ertrunken, vor einiger Zeit erst habe ich darüber in der Zeitung gelesen. Bei uns in der Nähe ist letzte Woche ein Pferd in eine Jauchegrube gefallen, und es hat Stunden gedauert, bis die Feuerwehr es daraus befreien hat können. Ich habe selbst bei der Befreiung zugeschaut, zuerst musste die Besitzerin das Tier beruhigen, dann erst konnte ihm der Tierarzt eine Betäubungsspritze setzen. Und als es schließlich ganz apathisch war, sind Feuerwehrleute hineingeklettert und haben ihm ein Geschirr angelegt. Danach hat man es mit der Seilwinde herausgezogen.

      Unsere Jauchegrube war früher mit einem Gitter abgedeckt, aber da ist mir ein Zufall zu Hilfe gekommen. Papa ist nämlich vor einiger Zeit mit dem Traktor drübergefahren, und der war zu schwer, deshalb ist das Gitter eingedrückt worden, sodass man gar nicht mehr darüberfahren konnte. Jetzt liegen nur mehr Holzbretter drüber. Papa hat stundenlang geflucht, weil ihm ein neues Gitter zu teuer ist. Und schuld war natürlich nicht er selbst, sondern Mama, die ihm das Gitter eingeredet hat, obwohl er es nicht wollte. Und natürlich der Verkäufer, der ihm das falsche, aber viel zu teure Gitter aufgeschwatzt hat. Und danach die Landwirtschaftskammer,