Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe. Wilhelm Raabe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilhelm Raabe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027207619
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stützt das Haupt auf die Hand. Noch sieht er vor sich im grün-goldenen Licht das Tal von Pyrmont mit dem bunten, tollen Leben und Treiben des Jahres eintausendfünfhundertsechsundfünfzig. Noch leuchten phantastisch all die farbenreichen Bilder. Um die Feuer lagern die Kranken und die Gesunden, die Sterbenden und die Zechenden und Schmausenden. Auf zusammengeschobenen Tonnen blasen und fiedeln die Bergleute vom Harz; im wildesten, ausgelassensten Reigen drehen sich die Tänzer und Tänzerinnen unter den grünen Bäumen. Noch blitzen die Waffen, noch erklingen die Trompeten, noch heben sich wiehernd die Rosse und drängen sich und schlagen wild aus. Fort und fort kommen und gehen die Züge der Saumtiere und Wagen. Noch waltet unter der großen Bronnenlinde, unter den Gesetzestafeln des Rektors Hermann Huddäus Simon der blinde Magus und heilt Kranke und Besessene. Noch wechselt fort und fort das sinnverwirrende Schauspiel; aber – allmählich, ganz leise, leise verbleichen die glänzenden Farben, und gleich einem Flor, gleich einem dünnen Nebel legt sich’s über das schillernde Gemälde.

      Und grade jetzt, schau, da zieht ein lustiger Zug aus der dunklen Torwölbung hervor über die Zugbrücke des Schlosses Pyrmont, wie hinter einem duftigen Schleier bewegen sich die Gestalten der glänzenden Reiter und Reiterinnen vor den Augen des Erzählers. Kaum erkennt er noch an der Spitze des Zuges den jungen Grafen Herrn Philipp von Spiegelberg und Fräulein Walburg, seine Schwester, welche den Falken auf dem Fausthandschuh trägt. Pagen und Knechte drängen sich hintereinander und nebeneinander, und an der Sänfte der Frau Herzogin Katharina von Sachsen-Koburg schreitet gravitätisch Klaus Eckenbrecher mit erhobenem Haupte, den Hut in der Hand tragend, daß die lange Hahnenfeder den Boden fegt. – Aus dem Fenster ihres Turmgemaches beugt sich Fausta – Fausta, die falsche Zauberin, und blickt dem Zuge nach, wie er sich gegen den Wald zu bewegt; Simone Spada stöhnt auf seinem Schmerzenslager zu Osnabrück, und Benedikt Meyenberger legt ihm die alterskalte Hand auf die Stirn.

      Fausta lächelt, und Philipp von Spiegelberg ist sehr bleich und hängt trübselig auf seinem Gaule.

      Und immer farbloser werden die Bilder den Augen des Erzählers; die Sonne sinkt nicht, aber sie scheint sich zurückzuziehen in immer weitere Ferne. Immer kleiner und kleiner wird sie und schwimmt endlich nur noch einem winzigen, bleichen Stern gleich in dem bleifarbenen Dunst. Eine ungeheuere Trostlosigkeit und Verlassenheit bemächtigt sich darob des Herzens.

      Aber es wird nicht Nacht!

      Der winzige Sonnenstern verschwindet nicht ganz. Durch das schreckliche, totenfarbige Halblicht flimmert er, und eines Menschen Augen klammern sich verzweifelnd an den Schein: verschwände auch dieses Pünktchen, so wäre die Zeit vorbei – alles wäre wieder öde und leer!

      Ein dunkles Wasser rauscht, ein Schatten gleitet langsam das Ufer entlang. Das murmelnde Wasser ist die Weser, der Schatten, welcher die Hände nach dem kleinen Stern ausstreckt, ist der kranke Vikarius von Stahle, der Bruder Festus.

      Nun ist auf einmal jener Stern zum Lichtschimmer geworden, welcher aus einem Fensterlein am rechten Ufer des Flusses fällt. Das Spinnrad Monikas surrt nicht mehr, müde hat die Jungfrau das Köpfchen auf die Brust sinken lassen, sie schlummert, und die Lampe ist dem Erlöschen nahe. Viele hunderttausend Mädchenherzen träumen von dem morgenden Feiertag und von dem Herzliebsten, und die Monika träumt mit. In seiner Studierstube schreitet der Vater auf und ab; ja – morgen ist Sonntag, viel tausend lutherische Pastöre machen ihre Predigt und Ehrn Valentin Fichtner ebenfalls.

      Horch, da tönt ein Gesang in der Ferne! Ein langbeiniger Gesell schreitet durch die dämmerige Nacht heran. Das ist Kaspar Wicht der Fiedelmann, welcher ein zweites Brieflein von dem Klaus Eckenbrecher in seinem Bettelsack gen Holzminden trägt.

      Wild traurig klingt des Sängers Weise. Er hat auch viel bitteres Herzeleid erfahren in seinen jungen Jahren und singt es eben aus. Es geht kein Wort seines Liedes dem Ohr des Erzählers verloren:

      »Den Tod hab ich gesehen:

       Er kam im leisen Wehen,

       Er kam mit sanftem Hauchen,

       Nicht wollt Gewalt er brauchen.

       Er kam beim Sterneflimmern,

       Bei Mondes bleichem Schimmern;

       Kein Lüftlein sich bewegte,

       Kein Blatt am Baum sich regte:

       Ein Vöglein schwieg im Flieder,

       Ein Fünklein fiel hernieder,

       Ein Herz hört’ auf zu schlagen

       Zwei Stündlein vor dem Tagen!«

      O, horch, und nun mischen sich viele lärmenden Instrumente in den melancholischen Gesang und verändern die Weise, und gell schallt sie fort:

      »Nun tu den Tod ich schauen,

       Er kommt im wilden Grauen!

       Er kommt im Wetterbrausen

       Zu Volkes-Not und Grausen!

       Die Glock zum Sturme rührt er,

       Des Krieges Feuer schürt er!

       Aus Nord und Süden rollt es,

       Aus Osten und Westen grollt es!

       Das Schwert in allen Händen!

       Die Pest an allen Enden!

       Wem mag es wohl gelingen,

       Den grimmen Tod zu zwingen?«

      Lichterglanz und das Gewühl eines festlich geschmückten königlichen Prachtsaales! Wo blieb der bleiche Stern? Wo blieb der friedliche Schein aus dem armen lutherischen Pfarrhause an der Weser? Wo blieb der Gesang des wandernden Spielmannes?

      In der großen Stadt Paris, in seinem Palast des Louvre sitzt beim glänzenden Mahl Heinrich der Zweite, König von Frankreich und Navarra. Er lacht, und Diana von Poitiers lächelt, und Katharina von Medici neigt die sinnende Stirn. Die schönen Damen und die edlen Ritter lächeln und kosen gleich ihrem König; aber zwischen Scherz und Lachen bewegt der Herrscher Unheil in seiner Brust gegen einen andern Herrscher, welcher nicht beim Gelage sitzt, sondern einsam, finster, bleich und krank vor einem Bilde des gekreuzigten Christus im Gebet liegt.

      Als dieser andere König sich von seinem Betschemel erhebt, tritt er an den Tisch, auf welchem eine große Karte von Flandern und Burgund ausgebreitet liegt. Draußen ruft die Wache die Ronde an, Partisanen klirren dumpf auf den Boden. Ein Mönch schleicht lautlos durch die Korridore, lauscht einen Augenblick an der Tür des finstern Königs und tritt ein – hoch klopft unter dem Brustpanzer das Herz des wachthabenden Soldaten.

      Totenstille herrscht jetzt im Schlosse zu Madrid. Die einsame Ampel, die im Vorgemach Philipp des Zweiten ihr trübes Licht auf den Harnisch des katalonischen Kriegers wirft, erlischt urplötzlich – alles um den Erzähler her versinkt in tiefste Finsternis – das Käuzchen, welches sich seit einigen Nächten vor seinem Fenster eingefunden hat, streift mit den Flügeln seine Fensterscheiben und läßt seinen schaurigen Klagelaut erschallen. Schnee liegt auf den Dächern und Bäumen.

      Memento mori!

      Zwölftes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Ein neues Jahr und neue Gesichter

      Ein harter Winter war auf den heißen, versengenden Sommer, welcher den Hütten des deutschen Volkes so viel Elend, Jammer und Not gebracht hatte, gefolgt. Mit dem ersten Blasen der Herbststürme war das wilde Getümmel um den heiligen Born nach allen Weltgegenden hin zerstoben. Heimgezogen waren die Fürsten und die Vornehmen, die Gelehrten, die Gaukler, Bettler, Vagabonden, die Gesunden und die Kranken. Nur die Toten und die Ureinwohner des Waldtales waren zurückgeblieben.

      Nicht mehr erklang die schrille Stimme der Kurfürstin Hedwig durch die Gänge des Schlosses, daß der armen Ursula von Spiegelberg eine Gänsehaut nach der andern über den Leib lief; nicht mehr war sämtliche weibliche Einwohnerschaft des Schlosses auf den Beinen, um der Frau Herzogin von Sachsen-Koburg Kamillentee zu kochen und Kräuterkissen zu wärmen. In die Gruft seiner Ahnen war Sigismund von