Doch für den Spiegel war das kein Grund für eine Korrektur der einzig gültigen Lesart. Denn: »Der SED-Mann setzte vielmehr seinerseits auf ein Einmauern der Ostdeutschen, weil es ›eine Reihe Fragen gibt, die bei offener Grenze nicht zu lösen sind‹.« 41
Das Hamburger Nachrichtenmagazin weiß nicht nur alles, es weiß es vor allem besser: »Chruschtschow hatte freilich keine Mühe, seinen Besucher (? – d. Verf.) zu überzeugen.«
Auch Die Welt rückte die Stühle wieder gerade. »Ulbricht sicherte sich, erfahren durch sein erfolgreiches Lavieren während des stalinistischen Terrors, ab: ›Fürchten Sie keine Auswirkungen auf die westdeutschen Wahlen, dass das Adenauer und Brandt hilft?‹ Chruschtschow antwortete hemdsärmelig: ›Ich denke, Adenauer wird gewinnen. Wir machen hier keine politischen Spiele. Sie sind beide Halunken. Brandt ist schlimmer als Adenauer.‹« 42
Die Hamburger Zeit federte im Feuilleton die harte Ablehnung der mit dem Papier gewonnenen Einsicht ab, spülte sie ein wenig weich für den westdeutschen Bildungsbürger, und beließ es bei der bislang üblichen Diktion. »Jetzt steht fest: Der endgültige Beschluss zum Bau der Berliner Mauer fiel am 1. August 1961 bei einem Gespräch von Walter Ulbricht (SED) mit Nikita Chruschtschow (KPdSU) kurz vor der gemeinsamen Tagung des Warschauer Paktes. Die beiden Generalsekretäre vereinbarten in Moskau, wie es in einem gerade entdeckten Protokoll des Gesprächs heißt, die Zugänge nach West-Berlin zu ›vermauern‹.« 43
Das Protokoll, so die Schöngeister von der Alster, erstaune wegen des »lockeren Tonfalls«. Dann aber sei man zur Sache gekommen. »Bereits zu Anfang des Gesprächs legt Chruschtschow seinem Gegenüber dar, dass es zur Sperrung der Grenze keine Zeit und Alternative mehr gebe: ›Ich habe unseren Botschafter gebeten, Ihnen meinen Gedanken darzulegen, dass man die derzeitigen Spannungen mit dem Westen nutzen und einen eisernen Ring um Berlin legen sollte. Das ist leicht zu erklären: Man droht uns mit Krieg, und wir wollen nicht, dass man uns Spione schickt. Diese Begründung werden die Deutschen verstehen.‹
Für die DDR sah Chruschtschow vor allem eine Polizeifunktion vor: ›Ich bin der Meinung, den Ring sollten unsere Truppen legen, aber kontrollieren sollten Ihre Truppen.‹ Gleichzeitig machte der sowjetische Partei- und Staatschef klar, dass er bereit war, ein hohes Risiko einzugehen: ›Wenn man uns Krieg aufzwingt, dann wird es Krieg geben.‹ Außerdem, so Chruschtschow zu Ulbricht, ›hilft das Ihnen, denn es reduziert die Fluchtbewegung‹.« 44
Chruschtschow äußerte sich weiter zu militärpolitischen Fragen: »Wir müssen auch zu einem gemeinsamen Entschluss über demonstrative militärische Verstärkungsmaßnahmen kommen. Ich habe einen Bericht unseres Generalstabes entgegengenommen, und wir werden alles tun, was nötig ist.«
Und an anderer Stelle sagte er: »Dem Berater Kennedys habe ich gesagt: Gegen jede Ihrer Divisionen bieten wir zwei auf; und wenn Sie die Mobilmachung erklären, dann tun wir das ebenfalls.«
Was im Westen als Willkür und militärischer Hasard interpretiert wurde, nämlich die Verstärkung der sowjetischen Truppen, hatte einen realen Grund: die Truppenbewegungen auf der NATO-Seite. Darauf ging Die Zeit aber nicht ein. Stattdessen hieß es bedrohlich: »Militärisch sei von der Sowjetunion bereits alles vorbereitet, führte der KPdSU-Chef weiter aus, sein Generalstab habe bereits alle entsprechenden Pläne ausgearbeitet: ›An der Grenze zur BRD werden sich unsere Panzer hinter den Stellungen eurer Soldaten eingraben. Das tun wir so geheim, dass es der Westen nicht mitbekommt.‹ Zugleich stellte er die Verlegung weiterer sowjetischer Truppen in die DDR in Aussicht.
Tatsächlich verstärkte die Sowjetunion bis August 1961 ihre Truppen in der DDR um gut 37500 Mann sowie um mehr als 700 Panzer. Diese Zuführungen entsprachen in etwa zwei bis drei Panzerdivisionen. Zugleich wurden an der polnischen Westgrenze weitere 70000 Soldaten stationiert. Die Südgruppe der Roten Armee in Ungarn erhielt ebenfalls 10000 Mann zusätzlich. Damit war die Mannschaftsstärke der sowjetischen Truppen in Mitteleuropa im Vorfeld des Mauerbaus um etwa 25 Prozent erhöht worden auf mehr als 545000 Mann. Die Sowjetarmee hatte damit fast ein Drittel ihrer Landstreitkräfte für die militärische Absicherung der Grenzschließung in Berlin in der DDR, Polen und Ungarn konzentriert.« 45
Chruschtschows Vorstoß hingegen, auch die DDR möge ihre Streitkräfte verstärken, blieb allgemein. »Unsere Genossen vom Militär meinten, vielleicht müsste bei den Deutschen auch etwas geschehen. Möglicherweise wäre es gut, eine Aufstockung eurer Divisionen vorzunehmen. Aber ich habe gesagt, dass man Genossen Ulbricht fragen muss, wie die Deutschen darauf reagieren. Das könnte unter Umständen negative Reaktionen auslösen, und als Demonstration hat diese Maßnahme keine entscheidende Bedeutung.«
Darauf ging Ulbricht nicht ein.
Nach Auffassung des Berliner Historikers Siegfried Prokop hingegen ist die Entscheidung für die Maßnahmen am 13. August vermutlich am 27. Juli 1961 gefallen. In einem Vortrag auf dem traditionellen Grenzertreffen am 30. Oktober 2010 führte er aus: »Darüber, dass Chruschtschow diese Entscheidung fällte, besteht kein Zweifel mehr. Er, der die Mauer für eine hässliche Sache hielt und der die Gefühle des deutschen Volkes verstand, hatte dazu gegenüber Botschafter Hans Kroll46 geäußert47: ›Es gab nur zwei Arten von Gegenmaßnahmen: die Lufttransportsperre oder die Mauer. Die erstgenannte hätte uns in einen ernsten Konflikt mit den Vereinigten Staaten gebracht, der möglicherweise zum Krieg geführt hätte. Das konnte und wollte ich nicht riskieren.‹ (Das widerspricht der Darstellung von Uhl, dass Chruschtschow einen Krieg durchaus für eine denkbare Option hielt – d.Verf.) Also blieb nur die Mauer übrig. Ich möchte Ihnen auch nicht verhehlen, dass ich es gewesen bin, der letzten Endes den Befehl dazu gegeben hat. […] Die Mauer wird, wie ich schon gesagt habe, eines Tages wieder verschwinden, aber erst dann, wenn die Gründe für ihre Errichtung fortgefallen sind.« 48
So Chruschtschow angeblich gegenüber dem BRD-Botschafter Kroll am 9. November 1961.
Die Rezeption heute
Der Umgang mit dem 13. August 1961 ist heute ritualisiert, die Haltung zur Mauer fixiert. Hier wird sichtbar, was Napoleon in den Satz gekleidet hat, dass die Geschichte die Summe der Lügen sei, auf die sich die Herrschenden nach dreißig Jahren geeinigt hätten. Das trifft zu. Keine im Bundestag vertretene Partei sieht es heute anders, als in den Medien und in den Schulbüchern seit Jahr und Tag mitgeteilt wird.
Die Linkspartei wirft sich an jenem Datum pflichtschuldig ihr Büßergewand über, trägt ihren Kranz in die Bernauer Straße und lässt sich dafür beschimpfen. Beschämt erklärte sie selbstanklagend beispielsweise 2001, als sie noch PDS hieß: »Die Berliner Mauer war ein Ergebnis der Blockkonfrontation im Kalten Krieg. Die Opfer dieses Grenzregimes sind jedoch mit dem Verweis auf internationale Rahmenbedingungen und Sicherheitskonzepte keinesfalls zu rechtfertigen. Menschliches Leid verlangt Respekt und Nachdenklichkeit. […]
Mit den Maßnahmen zum 13. August wollte die Partei- und Staatsführung in einer Art Befreiungsschlag mit nicht mehr beherrschbaren Schwierigkeiten fertig werden. Was als Sieg gefeiert wurde, war in Wahrheit eine schwere Niederlage in der Systemauseinandersetzung auf deutschem Boden. […] Nicht zum Schutz gegen einen angeblich drohenden Einmarsch der Bundeswehr, sondern gegen den Exodus der eigenen Bürger wurde ein Wall gebraucht. Chruschtschow gegenüber leistete Ulbricht den Offenbarungseid: Bei weiterhin offener Grenze ist der ›Zusammenbruch unvermeidlich‹. Doch stand eine Selbstaufgabe der DDR nicht zur Debatte und schon gar nicht zur Disposition deutscher Politiker, denn die DDR war ›der westliche Vorposten des sozialistischen Lagers‹, wie Anastas Mikojan, der Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, feststellte.« 49
Diese Grenze wurde gesichert, damit Frieden blieb. Der Frieden hielt 28 Jahre, so lange sie stand. 1993 beteiligten sich erstmals deutsche Soldaten im Rahmen der »Operation Deny Flight« an der Überwachung des Flugverbotes über Ex-Jugoslawien, im Sommer mussten 1800 Bundeswehrsoldaten nach Bosnien-Herzegowina, 1999 bombardierte die NATO mit deutscher Beteiligung Jugoslawien …
Von Kambodscha über Somalia und Ruanda, von Bosnien über