Doch außer der Forderung, dass die DDR ihr Produktionsprogramm so ändern müsse, dass sie »mehr Waren für den Bedarf der UdSSR« produzieren könne, äußerte Mikojan sich in der Sache kaum. »Das Defizit der Zahlungsbilanz bezeichnete er als eine betrübliche Erscheinung, aber offensichtlich ein Faktum. In diesem Jahr wird die UdSSR entgegenkommen. Wie und in welcher Höhe, das muss noch eingehend geprüft werden. Aber in Zukunft ginge das nicht so«, notierte erkennbar verärgert der Planungschef aus Berlin. »Daraufhin erläuterte ich, dass wir schon bei der Beratung des Siebenjahrplanes in Moskau 1958 das Defizit in der Außenhandelsbilanz vorgelegt hatten und dass ein Defizit auch in den Jahren 1962 bis 1964 vorhanden ist. Er erwiderte, das sei sehr betrüblich, aber man muss die Frage gründlich studieren und entscheiden, wie man sie lösen kann.« 11
Am Nachmittag war Leuschner bei Patolitschew, dem Außenhandelsminister. »Dort war folgende Linie: So viel Metall und andere Rohstoffe in Westdeutschland kaufen wie nur möglich und die Sowjetunion entlasten. Unsere Schulden (im Westen – d. Verf.) nicht vermindern, sondern gleichlassen bzw. erhöhen.«
Das stand klar im Widerspruch zu Mikojan, der gefordert hatte, die DDR solle sich »von imperialistischen Störmanövern« unabhängig machen, aber die Antwort schuldig blieb, wie das geschehen sollte.
Am 30. Januar schrieb Bruno Leuschner auf vier Seiten an Walter Ulbricht über den Stand seiner Sondierungen: »Praktisch ist es so, dass der Abschluss von Verträgen über einen großen Teil der im November zugesagten Materialien, insbesondere solcher Materialien, die die Sowjetunion für uns in kapitalistischen Ländern kaufen wollte, ruht.« 12 Der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates und Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Bruno Leuschner trat merklich auf der Stelle, obgleich er fortgesetzt zwischen Berlin und Moskau pendelte. »Ich mache mir Gedanken darüber, wie es nun mit der praktischen Arbeit weitergehen soll«, schrieb er besorgt am 20. März an Ulbricht, die Hauptaufgaben seien nicht gelöst, »die sowjetischen Genossen wollen sehr viel Unterlagen und Berechnungen sehen«, aber nichts sei wirklich geklärt.13
Am 22. April 1961 war Bruno Leuschner wieder in Moskau, um sich mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Sassjadko zu treffen. Das elfseitige Papier, das er anschließend füllte, trägt den Stempel: »Geheim.« Leuschner versuchte dem russischen Amtskollegen, der ebenfalls von Produktionsumstellung und dergleichen redete, den dramatischen Ernst der Lage zu schildern, wenn die versprochenen Lieferungen aus der UdSSR ausblieben. »Wir müssen immer davon ausgehen, das verlangt das Politbüro von uns, dass wir unter den Bedingungen der DDR bei offenen Grenzen keinerlei Experimente machen können. Die Republikflucht ist in diesem Jahr wieder angestiegen. Es ist für uns völlig untragbar, dass diese Entwicklung dadurch noch forciert wird, dass die Betriebe nicht ordentlich arbeiten können und keine stabile Perspektive sehen.« 14
In dem ebenfalls als »Geheim« klassifizierten Bericht, den Leuschner über sein anschließendes Gespräch mit dem 1. Stellvertretenden Vorsitzenden des Staatlichen Ökonomischen Rates der Sowjetunion, Tichomirow, notierte, wurde erkennbar, dass Moskau den Spieß umzudrehen versuchte. Man forderte offen Strukturänderungen im Maschinenbau der DDR. »Es bestehe die Gefahr, dass die Bedürfnisse der UdSSR ungenügend berücksichtigt werden und dadurch große Schwierigkeiten entstünden«, orakelte Tichomirow sibyllinisch, um dann Leuschner zu erpressen: »Wenn die DDR nicht die von der UdSSR benötigten Maschinen liefert, dann könne man auch nicht die Zusage über die Lieferungen von Metallen aufrecht erhalten.« 15
Die Spannungen zwischen Berlin und Moskau wurden im Frühjahr 1961 selbst in vergleichsweise kleinen Begebenheiten sichtbar. Am 5. Mai 1960 verletzte eine westliche Militärmaschine bei Boizenburg den Luftraum der DDR. Generaloberst Iwan I. Jakubowski, Oberkommandierender der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD), protestierte bei den Westmächten.
Aber wie!
Peter Florin (Leiter der Abteilung für Internationale Beziehungen des ZK der SED) machte Ulbricht in einer Hausmitteilung darauf aufmerksam, dass die sowjetische Note »Formulierungen enthält, die meiner Meinung nach nicht mit der Souveränität der DDR übereinstimmen und vermieden werden sollten. Im ganzen Dokument wird nicht ein einziges Mal davon gesprochen, dass alles in Übereinstimmung oder gar auf Veranlassung der DDR geschieht.« 16
Das machte klar, wer in diesem Land das tatsächliche Sagen hatte.
Ganz in diesem Geiste war auch ein Brief Jakubowskis an Ulbricht formuliert, den der Militär am 15. Juli 1961 im Zentralkomitee der SED abliefern ließ. Der Oberkommandierende mahnte den Staatsratsvorsitzenden: »Für Bau- und Reparaturarbeiten in einigen Garnisonen, in denen Truppenteile der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland stationiert sind, hatten wir gebeten, für 1961 Kabellieferungen im Wert von 1,098 Millionen DM einzuplanen. Die Staatliche Plankommission der DDR hat Kabel nur im Wert von 849000DM bereitgestellt, d.h. für 249000 weniger als geplant. […] Ich sehe mich genötigt, mich an Sie um Hilfe zu wenden und Sie zu bitten, die Staatliche Plankommission anzuweisen, Möglichkeiten für die Bereitstellung folgender benötigter Kabel zu finden.«
Nach einer präzisen Auflistung schloss Jakubowski mit der ultimativen Aufforderung, die wie ein Befehl klang: »Ich bitte, mir Ihre Entscheidung mitzuteilen.« 17
Ulbricht vermerkte handschriftlich: »Gen. Apel und Neumann zur Stellungnahme und Maßnahmen W.U.«
Forderungen sowjetischer Militärs waren durchaus üblich. Zwei Monate später verlangte Marschall Konew, der seit Anfang August neben Jakubowski die sowjetischen Interessen in der DDR wahrnahm, von Walter Ulbricht gleichfalls Unterstützung. Zwischenzeitlich war die Grenze geschlossen worden, worauf Konew am 18. September schrieb: »Zur Durchführung der Maßnahmen, die der Erhöhung der Gefechtsbereitschaft der GSSD im Interesse der Verteidigungsfähigkeit der DDR dienen, werden kurzfristig über den Plan hinaus bestimmte Materialien und Einrichtungsgegenstände für Kasernen benötigt. Ich bitte zu veranlassen, dass die GSSD im IV. Quartal 1961 von der Industrie der DDR zusätzlich mit folgenden Materialien beliefert wird.«
Dann folgte eine Liste mit 18 Positionen.18
Die zähen Wirtschaftsgespräche in Moskau zogen sich über das ganze Frühjahr 1961 hin. Am 3. Mai trafen sich in Berlin Walter Ulbricht, Bruno Leuschner und Günter Mittag. Das Papier, in welchem die Runde dokumentiert ist, trägt den Stempel »Streng vertraulich!«. Die drei kamen überein, dass »ungefähr im Juli« eine offizielle Delegation nach Moskau reisen solle, um die Sache zum Abschluss zu bringen. Ulbricht, ganz Internationalist und Stratege, wollte einerseits nicht, dass die Sowjetunion bloßgestellt und verärgert werden könnte, und dass andererseits die Lage der DDR im Westen offenbar wurde. Deshalb wies er an: »Das Material über die Verhandlungen in Moskau ist so zu behandeln, dass dem Gegner der Inhalt nicht zugänglich ist. Die verantwortlichen Leiter erhalten nur das Material (Auszüge), was sie unmittelbar für ihre Arbeit benötigen. Es muss verhindert werden, dass eine Vielzahl von leitenden Funktionären einen zusammenhängenden Überblick über die gesamte Lage erhält.«
Und deshalb schlug er auch schon den nichtssagenden Text vor, der als Kommuniqué veröffentlicht werden sollte: »Im Ergebnis der Beratungen wurde die beschleunigte Entwicklung bestimmter Zweige der chemischen Industrie, der Energiewirtschaft und der Metallurgie vereinbart. Die Verhandlungen verliefen im Sinne einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit und es wurde vereinbart …« 19
Wenige Tage zuvor, am 28./29. März 1961, hatte in Moskau der Politisch Beratende Ausschuss der Warschauer Vertrags-Staaten getagt. Aus der DDR nahmen an der Sitzung Walter Ulbricht, Außenminister Lothar Bolz, ZK-Sekretär Erich Honecker und Verteidigungsminister Heinz Hoffmann teil. Thema war das bevorstehende Gipfeltreffen in Wien. Am 3./4. Juni wollten erstmals der sowjetische Ministerpräsident Nikita S. Chruschtschow und US-Präsident John F. Kennedy zusammentreffen. Drei Themen standen auf der Agenda: Einstellung der Kernwaffenversuche, Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland und die Regelung der Westberlin-Frage.
Moskau regte bereits im Vorfeld in einem Memorandum über die deutsche Frage die West-Alliierten an, die