Das von ihm geforderte Gespräch mit Chruschtschow fand am 1. August statt. Ulbricht schilderte ihm offen die aktuelle Lage in der DDR. Bei der weiteren Entwicklung würden 1962 im Vergleich zu 1960 mindestens 175000 qualifizierte Facharbeiter fehlen. Der dadurch 1961 eingetretene Produktionsausfall betrage im Vergleich zu 1960 etwa 2,5 bis 3 Milliarden DM.
Auf die Lage an der Grenze zwischen dem demokratischen Sektor Berlins und den Westsektoren eingehend und darauf, wie der Politisch Beratende Ausschuss damit umgehen solle, sagte Chruschtschow: »Wir müssen ein gemeinsames Kommuniqué veröffentlichen, wo die DDR im Interesse der sozialistischen Länder gebeten wird, die Grenze zu schließen. Dann machen Sie das auf unsere Bitte. Das ist keine innere, keine wirtschaftliche, sondern eine große allgemein politische Angelegenheit.« Die Warschauer Vertragsstaaten sollten übereinkommen, »solche Kontrolle an den Grenzen der DDR einschließlich der Grenze in Berlin« zu organisieren, »wie sie auch an den Grenzen der Staaten der Westmächte besteht«.35
Darauf Ulbricht: »Wir sind einverstanden mit der Begründung dieser Sache vom Standpunkt der großen Politik. Aber wir müssen uns auf wirtschaftliche Schritte vorbereiten. Vor Durchführung dieser Maßnahme muss ich erläutern, wie unsere Wirtschaftspolitik aussehen wird, damit das alle wissen. Zur politischen Seite haben wir den Friedensplan beschlossen, der großen Erfolg hat.
Chruschtschow: Dazu habe ich eine andere Meinung. Vor Einführung des neuen Grenzregimes sollten Sie überhaupt nichts erläutern, denn das würde die Fluchtbewegung nur verstärken und könnte zu Staus führen. Das muss so gemacht werden, wie wir den Geldumtausch realisiert haben. Wir lassen euch jetzt ein, zwei Wochen Zeit, damit ihr euch wirtschaftlich vorbereiten könnt.
Dann beruft ihr das Parlament ein und verkündet folgendes Kommuniqué: ›Ab morgen werden Posten errichtet und die Durchfahrt verboten. Wer passieren will, kann das nur mit Erlaubnis bestimmter Behörden der DDR tun.‹« Und weiter sagte Chruschtschow: »Wenn die Grenze geschlossen wird, werden Amerikaner und Westdeutsche zufrieden sein. Botschafter Thompson (Llewellyn E. Thompson, von 1957 bis 1962 Vertreter der USA in Moskau – d. Verf.) hat mir gesagt, dass diese Flucht den Westdeutschen Ungelegenheiten bereitet. Wenn Sie also diese Kontrollen errichten, werden alle zufrieden sein. Außerdem bekommen die Ihre Macht zu spüren.«
Wir erinnern uns: Am 15. Juni hatte Walter Ulbricht auf der Pressekonferenz in Berlin erklärt, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. An welcher Grenze westlicher Staaten existierte »eine Mauer«? Ulbricht hat Ende Juli 1961 also ganz klar auch intern gesagt, dass er genau solche Verhältnisse »an den Grenzen der DDR einschließlich der Grenze in Berlin« haben wolle, »wie sie auch an den Grenzen der Staaten der Westmächte« bestünden. Aus dem Protokoll des Telefonats vollständig in den Anlagen dieses Buches veröffentlicht zwischen ihm und Chruschtschow geht klar hervor, wer die treibende Kraft war.
Chruschtschow ging auch auf die Arbeitskräftesituation ein. »Unser Botschafter hat mir berichtet, dass es euch an Arbeitskräften fehlt. Die können wir euch geben.
Ulbricht: Wir haben im Politbüro beschlossen, um Arbeiter aus Bulgarien und Polen zu bitten.
Chruschtschow: Auch wir können sie euch geben – junge Leute, Komsomolzen. Wir haben überflüssige Arbeitskräfte. Hören Sie nicht auf die Stimme Amerikas, die behauptet, uns fehle es an Arbeitern.
Ulbricht: Ich habe mich einfach nicht entschließen können, Ihnen diese Frage zu stellen.
Chruschtschow: Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir das dem Volk am besten erklären.
Ulbricht: Als sozialistische Hilfe für die DDR!
Chruschtschow: Vielleicht sollten wir es besser Jugendaustausch nennen, wie Fidel Castro vorgeschlagen hat. Bei dem Austausch gebt ihr uns einen und wir euch hundert.« 36
In dem von Werner Eberlein gedolmetschten Gespräch, bei dem sich Ulbricht Notizen machte (auch diese Zettel liegen im Bundesarchiv in der Berliner Finckensteinallee), forderte Chruschtschow »administrative Maßnahmen. Grenze schließen«, worauf es Ulbricht entfuhr, man könne nicht eine Mauer rings um Westberlin ziehen.
Auf achtzig Kilometer solle man Draht ziehen, die Hälfte der Grenze ohne Draht. »2. Einwohner DDR verbieten, ohne Genehmigung Westberlin aufzusuchen«, notierte Ulbricht. »Alle Fußgänger, alle Passagen, alle Bahnen am Übergangskontrollpunkt kontrollieren. S-Bahn an Grenzstationen Kontrolle aller Reisenden. Alle müssen aus Zug nach Westberlin aussteigen, außer den Westberlinern.« 37
Auch Eberlein erinnerte sich später an diese Verabredung der Parteiführer. In einem Gespräch am 12. Dezember 2001 reflektierte er die Moskauer Konsultationen: »Niemand dachte daran, dass eine Mauer gebaut wird. Es sollte mit ein paar Rollen Stacheldraht abgesperrt werden, ein paar Durchlässe würden gemacht und jeder anständige Deutsche würde zur Volkspolizei gehen, sich ein Visum ausstellen lassen und damit die Grenze passieren. Wenn Ulbricht kurz vor dem Mauerbau in einem Pressegespräch gesagt hat: Wir haben keine Absicht, eine Mauer zu bauen, unsere Bauarbeiter sind für andere Dinge da, unterstellt man ihm heute, dass er das gesagt hat, um abzulenken. Ich glaube, er war überzeugt von dem, was er da gesagt hat, das war seine ehrliche Meinung, denn das war in Moskau verhandelt worden.« 38
Bis zu jenem Gipfeltreffen Anfang August 1961 im Kreml, zu welchem auch die Führungen Albaniens, Chinas, Koreas, der Mongolei und Vietnams eingeladen wurden (und bis auf Albanien waren alle vertreten, selbst Ho Chi Minh reiste aus Hanoi an), war in Moskau nicht klar, wie mit der offenen Grenze umgegangen werden sollte.
Noch am 15. Juli hatte ein Genosse Karpin, im ZK der KPdSU für Deutschlandfragen zuständig, den Berliner SED-Chef Paul Verner – worüber dieser Ulbricht anschließend in einer Hausmitteilung informierte – beiläufig wissen lassen, »dass sie noch nicht wissen, wie man all diese Fragen praktisch lösen soll, weil sie noch keine bestimmte Vorstellung zu einzelnen Problemen haben«.39
Dann lief der 13. August 1961 mit all den bekannten Maßnahmen. Und Ulbricht saß zwei Tage später mit Götting im Auto und berichtete von seinem Erstaunen, als Chruschtschow in Moskau in großer Runde plötzlich erklärt habe, der Genosse Ulbricht hätte ihm soeben vorgeschlagen, um Westberlin eine Mauer zu ziehen. Er sei, sagte Ulbricht, wie vom Donner gerührt gewesen. Einen solchen Vorschlag hatte er nie gemacht. Er habe allerdings schlecht in dieser Runde aufstehen und Chruschtschow widersprechen oder gar dementieren können. Und auch außerhalb des Kreml hätte er das wohl kaum öffentlich machen können.
Götting sah, dass Ulbrichts Betroffenheit echt und keineswegs gespielt war. Dieser war aber Parteisoldat, und der hatte zu gehorchen.
Auch in Moskau gibt es Protokolle, so eines über das Gespräch zwischen Chruschtschow und Ulbricht an jenem 1. August 1961. Das 19-seitige russische Dokument über jenes Gespräch von 15.40 bis 18.00 Uhr notierte Valentin Koptelzew. Es befindet sich heute im schwer zugänglichen Präsidentenarchiv in Moskau und wurde von dem Historiker Matthias Uhl im Sommer 2009 publik gemacht. Obgleich etwa die B.Z. am 1. Juni 2009 titelte: »Akten-Fund: Chruschtschow befahl Mauer-Bau«, und im Text fragte: »Muss die deutsch-deutsche Geschichte jetzt neu geschrieben werden?«, war diese Sorge unbegründet. Die offizielle Lesart wurde in der Bundesrepublik Deutschland unverändert beibehalten: Ulbricht hat die Mauer gebaut. Basta.
Ausgerechnet in einer Boulevard-Zeitung des Springer-Verlages war zu lesen: »Bislang gingen die Forscher davon aus, dass SED-Chef Ulbricht und Erich Honecker fast im Alleingang über den Bau der Berliner Mauer entschieden. Das Protokoll eines persönlichen Gesprächs zwischen Chruschtschow und Ulbricht am 1. August 1961 im Kreml stellt die Geschichte aber in einem neuen Licht dar.
Der Historiker Matthias Uhl (39, forscht seit 2005 in Moskau) fand das Protokoll im Archiv in Moskau. ›Mir war sofort klar‹, sagte er der B.Z., ›dass das Dokument von historischer Tragweite ist. Bislang hatten wir angenommen, dass die DDR die treibende Kraft beim Bau der Mauer war.‹« 40
Selbst das Nachrichtenmagazin Der Spiegel kam nicht umhin, die Existenz dieses Dokuments und dessen Aussage zu