Aber die DDR war in militärischer Hinsicht nicht souverän, wie dies weltweit kein Staat und keine Armee ist, die einem Bündnis angehört. Darauf werden wir auch noch zu sprechen kommen. Und zum Zweiten handelte es sich bei jener Demarkationslinie nicht um eine einfache Staatsgrenze, schon gar nicht wie es fälschlich und beschönigend heißt um eine »innerdeutsche Grenze«. Es war die Frontlinie zwischen den stärksten Militärpakten jener Zeit. Das war (und ist) weder vergleichbar mit dem 17. Breitengrad auf der koreanischen Halbinsel noch mit der befestigten Grenze zwischen den USA und Mexiko, mit der Grünen Linie zwischen Nord- und Südzypern (dem eigentlichen Zypern) oder zwischen Israel und Palästina.
Die Maßnahmen am 13. August 1961, auch das ist zu belegen, waren militärisch notwendig und politisch erforderlich. Das muss man nicht relativieren oder gar korrigieren. Worüber geredet werden kann: Weshalb gelang es nicht, diese Grenzsicherungsanlagen in der Folgezeit abzubauen? (Wie Erich Honecker bei seinem Staatsbesuch in der BRD meinte: dass diese Grenze so würde wie jene zwischen der DDR und Polen.) Aber auch daran waren wie schon 1961 zwei Seiten beteiligt. Nur von der einen Seite Selbstkritik einzufordern, wird dem komplexen Vorgang nicht gerecht. Die DDR hat jedoch, worüber ebenfalls berichtet werden wird, das ihr Mögliche zur Entspannung und zur Deeskalation des Konfliktes getan.
Man kann auch nicht behaupten, dass diese Grenze undurchlässig gewesen sei. In den achtziger Jahren beispielsweise reisten im Jahresdurchschnitt über zwei Millionen DDR-Bürger in den Westen und besuchten rund drei Millionen Bundesbürger die DDR. Dazu kamen noch fast zwei Millionen Westberliner.
Allein zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 1988 verzogen mit Genehmigung der zuständigen Behörden der DDR insgesamt 10255 Bürger »für ständig« in die BRD und nach Westberlin. Unter den Ausgereisten befanden sich 6643 Personen im arbeitsfähigen Alter und 1744 Kinder. Im ersten Halbjahr 1989 gingen gar 38917 für immer, darunter 27507 Personen im arbeitsfähigen Alter und 8977 Kinder.
Es ist aus verschiedenen Gründen ungehörig, auf die fünf Meter hohe und zehn Meter dicke Betonmauer zu verweisen, die über mehrere Hundert Kilometer die beiden Koreas teilt, wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein. Doch wir versagen uns den Hinweis an dieser Stelle nicht, dass nachdem sich im Jahre 2000 Entspannungserfolge zwischen Nord- und Südkorea abzeichneten erstmals seit Beginn des Krieges vor sechzig Jahren Verwandtenbesuche dort möglich waren. Daran sollen dem Vernehmen nach etwa vierhundert Koreaner beteiligt gewesen sein.
Wir wollen dies in keiner Form bewerten. Aber vielleicht helfen solche Zahlen und Hinweise, den Blick auf den 13. August 1961 und die Zeit danach ein wenig zu schärfen und in der Diskussion zu einer Versachlichung und Differenzierung zu kommen.
»Wo Emotionen den Verstand regieren, ist die objektive Analyse verabschiedet«1, schreibt der international renommierte Historiker Prof. Dr. Kurt Pätzold. Da ist ihm zuzustimmen.
Heinz Keßler und Fritz Streletz,
Berlin/Strausberg im Frühjahr 2011
Einstimmung: Die Lage in der DDR 1961
»Können Sie mich mitnehmen?« Walter Ulbricht ist autolos. Die Staatsratssitzung war kürzer ausgefallen als geplant, Ulbrichts Fahrer noch nicht da. Gerald Götting will in den CDU-Hauptvorstand, nicht nach Pankow, doch er sagt »Ja«. Von einem Christdemokraten erwarten auch Atheisten in der DDR christliche Nächstenliebe.
Vor wenigen Stunden erst ist der CDU-Generalsekretär aus Afrika zurückgekehrt. Zum zweiten Male hatte er Albert Schweitzer in Lambarene in Gabun besucht. Diesmal, um dem Friedensnobelpreisträger Schweitzer für sein Engagement die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität zu Berlin zu überreichen. Der Urwaldarzt hatte überschwänglich reagiert, neben anderen Schriftstücken übergab er Götting auch einen persönlichen Brief an Walter Ulbricht. Die Maschine nach Europa war jedoch ohne den DDR-Politiker abgeflogen, da sie überbucht war. Die Nacht zum 13. August 1961 verbrachte Götting in Libreville auf einer harten Bank auf dem Flughafen, ehe er via Brazzaville doch noch einen Flug nach Paris bekam. Heute Morgen, am Dienstag, dem 15. August, hatte Götting Orly erreicht.
Bei seiner Ankunft in der französischen Hauptstadt war der stellvertretende DDR-Staatsratsvorsitzende bereits auf dem Flugfeld von einem aufgeregten Deutschen angesprochen worden. In Berlin tobe wahrscheinlich der Bürgerkrieg, haspelte er, das Ostberliner Regime habe versucht, Westberlin dichtzumachen. Er rate Götting dringend, in Paris zu bleiben und die weitere Entwicklung abzuwarten, er könne ihm aber auch bei der Weiterreise in die Bundesrepublik behilflich sein.
Götting erkundigte sich, ob Berlin weiterhin von den internationalen Luftfahrtgesellschaften angeflogen werde. Das wurde bestätigt. Der gebuchte Flug mit der LOT nach Berlin-Schönefeld werde planmäßig erfolgen, hieß es. »Na sehen Sie«, beruhigte Götting den westdeutschen Diplomaten. Er wolle erst einmal in Berlin nach dem Rechten schauen. Und wenn dort wirklich das Chaos herrsche, wie er meine, dann könne er ja noch immer auf sein freundliches Angebot zurückkommen.
In Schönefeld war Götting von Vizeaußenminister Sepp Schwab begrüßt und über die aktuelle Entwicklung unterrichtet worden. Dann fuhr er zur Sitzung des Staatsrates. Der aktuellen Zeitung entnahm Götting, dass auch er im Namen der CDU den Maßnahmen am 13. August zugestimmt habe.
Die Sitzung endete, wie gesagt, vor der Zeit. Die Anwesenden nahmen die Informationen des Vorsitzenden zur Kenntnis. Diskutiert wurde nicht. Beim Verlassen des Sitzungssaales stießen Ulbricht und Götting zusammen. Götting sprach ihn höflich wegen seiner angeblichen Unterschrift an. »Hören Sie, Herr Ulbricht, ich war doch gar nicht im Lande und habe auch nicht an der Sitzung mit den Vorsitzenden der Blockparteien teilgenommen. Wie konnte ich da zustimmen?«
Ulbricht blinzelte ihn durch die Brille an. »Hätten Sie etwa nicht zugestimmt?«
Götting nickte. Ja, doch, selbstverständlich.
»Na sehen Sie, dann ist doch alles in Ordnung, ja.« Ulbrichts Mundwinkel gingen nach oben …
Und nun sitzen sie beide nebeneinander in einem schweren sowjetischen Auto.
»Ach«, beginnt Ulbricht. »Da hat mir Chruschtschow ganz schön was eingebrockt.«2
Zu Beginn des Jahres 1961 befand sich die DDR in einer wirtschaftlichen Krise. Bonn hatte im September zum 31. Dezember 1960, also mehr als kurzfristig, das Handelsabkommen mit Berlin aufgekündigt. Alle Lieferungen an wichtigen Rohstoffen und Halbfabrikaten aus der Bundesrepublik sollten eingestellt werden. Damit, so sprach der Rheinische Merkur es am 9. Dezember 1960 aus, war die DDR an ihrer »empfindlichsten Stelle getroffen worden: der Wirtschaftsplanung«. Bonn spekulierte darauf, dass der Ausfall der westdeutschen Exporte »nicht kurzfristig durch Lieferungen aus anderen Ländern zu ersetzen war«, so das Blatt. Und genauso war es.
Am 30. November 1960 traf sich in dieser Sache Ulbricht mit Chruschtschow in Moskau, um die Konsequenzen zu erörtern und vor allem darüber zu reden, wie mit Hilfe der Sowjetunion die Lücken geschlossen werden könnten.
Der Sieg in diesem Gefecht des Kalten Krieges ging eindeutig an den Westen. Zwar wurde das Handelsabkommen mit der DDR in letzter Minute wieder in Kraft gesetzt, das absichtsvoll provozierte Chaos aber war dennoch eingetreten. Am 19. Januar 1961 schickte Ulbricht an den ersten Mann in Moskau einen mehrseitigen Hilferuf. Der stützte sich auf eine Analyse, die der Erste Sekretär am Tag zuvor im Politbüro vorgetragen hatte.
»Die Lage ist bei uns in diesem Jahr so kompliziert, dass wir ohne die Verwirklichung der in den November-Beratungen gegebenen [sowjetischen] Zusagen auf Lieferung der wichtigsten industriellen Rohstoffe […] überhaupt keine Grundlage für die Durchführung unserer wirtschaftlichen Aufgaben im Jahre 1961 haben. Es konnten aber nicht alle Fragen geklärt werden. So konnte bisher noch keine konkrete Vereinbarung