Der Sinn und Wert des Lebens. Rudolf Eucken. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Eucken
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066113995
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des Lebens berufen. In der Neuzeit sind auf Grund der modernen Technik und der Beschleunigung des Verkehrs die Berührungen und Beziehungen von Mensch zu Mensch unermeßlich gewachsen, die Kräfte haben sich mehr zu fruchtbarer Arbeit zusammengefunden und dadurch ihr Vermögen gesteigert, auch die Individuen sind weit mehr in Bewegung versetzt und zu mehr unmittelbarem Empfinden geweckt; durch alles zusammen ist der Mensch sich selbst und dem Menschen weit mehr geworden. Solche Erfahrungen lassen es nicht als überkühn erscheinen, daß der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und mit emsigem wie zielbewußtem Handeln einen zusagenden Stand des Lebens herbeiführt, der alle berechtigten Wünsche zu erfüllen verspricht; ist ein überschwängliches Glück unerreichbar, wie es die Religionen dem Menschen versprachen, so kann doch recht viel zur Hebung des Daseins geschehen, in tatkräftigem Wirken dafür kann der Mensch seinem Leben ganz wohl einen Sinn und Wert verleihen. Ihm mag es bei solchem Zuge ein nicht geringer Vorteil dünken, wenn die Bindungen und Hemmungen entfallen, welche von den älteren Lebensordnungen her einen Druck auf das Handeln üben, wenn der Mensch nunmehr allen Anregungen der Erfahrungswelt mit voller Unbefangenheit nachgehen kann. Auch die einzelnen Lebensgebiete müssen sich damit eigentümlich gestalten, sie müssen an Schlichtheit, an seelischer Nähe und Wärme gewinnen, wenn sie lediglich daraufhin angesehen und danach bemessen werden, was sie dem Menschen als Menschen leisten. Aller Verwicklung der Weltprobleme enthoben, sieht sich hier das Handeln vor erreichbare Ziele gestellt, die doch keineswegs geringfügig sind und menschliche Kraft ganz wohl in Bewegung zu setzen vermögen. So ist es sehr begreiflich, daß ein derartiges Streben vielen Anklang fand und einen eigentümlichen Lebensstrom erzeugte.

      Solche Fassung des menschlichen Daseins muß auch den Gegensatz eigentümlich gestalten, der von altersher durch die menschliche Gemeinschaft geht, und dessen Zusammenstoß ein Hauptantrieb der Bewegung auf diesem Gebiete ist, den Gegensatz des Gesamtstandes und des Befindens der einzelnen Individuen, den Kampf darum, ob möglichste Unterordnung unter das Ganze oder freie Bewegung der Einzelnen das Hauptziel bilde, ob mehr das Gemeinsame oder das Eigentümliche den Charakter des Lebens zu bestimmen habe, ob mehr eine Organisation oder eine Emanzipation der Kräfte zu erstreben sei.

      Dieser Gegensatz von Gesellschaft und Individuum, von Zusammenstreben und Auseinandergehen, von Ordnung und Freiheit durchdringt in weitester Fassung die ganze Weltgeschichte, er wirkt von ihr zur Gegenwart sowohl aus der Arbeit der Jahrtausende als aus den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts. Nachdem der Verlauf des Altertums mehr und mehr die überkommenen Ordnungen zersetzt und den Schwerpunkt des Lebens den Individuen zugewiesen hatte, erfolgt gegen sein Ende ein immer stärkerer Rückschlag zugunsten einer festeren Verbindung der Kräfte, philosophische Schulen wie religiöse Kulte schließen die Individuen enger zusammen und lassen sie einander helfen und stützen; das Christentum nimmt die Bewegung auf und führt sie bei wachsendem Verlangen nach einem sicheren Halt und nach Befreiung von eigener Verantwortung schließlich dahin, daß die religiöse Gemeinschaft, die Kirche, zur alleinigen Trägerin göttlicher Wahrheit und göttlichen Lebens wird, der Einzelne einen Anteil daran nur durch ihre Vermittlung erlangt. Wir wissen, wie das auch in die Gegenwart hinein eine große Macht erstreckt.

      Eine völlig entgegengesetzte Richtung verfolgt die Neuzeit durch alles ihr eigentümliche Schaffen hindurch, sei es der Aufklärung, sei es des Humanismus. Aus allen ihren Bildungen spricht der Glaube an den Wert und das Vermögen der Individuen, so daß auf deren Wirken das Leben zuversichtlich gestellt wird; nichts unterscheidet die Kulturarbeit der modernen Völker mehr voneinander als das Gebiet und die Art, worin sie den Freiheitsgedanken zur Herrschaft brachten; auch für das Leben der Gegenwart hat jener seine Macht keineswegs eingebüßt, er erzeugt immer neue Bewegung.

      Sodann aber entsteht auf dem Boden des letzten Jahrhunderts von verschiedenen Seiten her ein starkes Verlangen nach mehr Zusammenschluß der Einzelnen zu einem Ganzen und nach ihrer Befestigung dadurch, das aber sowohl aus der inneren Bewegung des geistigen Lebens als durch neue Aufgaben und Verwicklungen auf dem Boden der Erfahrung. Die spekulative Philosophie lief in eine Verkündigung eines alles beherrschenden Gesamtgeistes aus, dem der Einzelne unbedingt dienen müsse, stärker noch wirkte das Aufkommen einer historischen Denkart mit ihrer Einfügung des Einzelnen in große Zusammenhänge, am stärksten aber tat es das Aufkommen schroffer wirtschaftlicher Gegensätze, der Konflikt von Arbeit und Kapital, der die Menschheit zu zerreiben drohte und daher ein wachsendes Verlangen nach einer Ordnung ihrer Verhältnisse durch die überlegene Macht des Staates hervorrief. Alles miteinander hat manche auf die mittelalterliche Denkart zurückgreifen lassen, vornehmlich aber hat es auf dem eigenen Boden der Zeit eine neue Bewegung erzeugt, die Bewegung zu einer lediglich bei sich selbst befindlichen und befriedigten Sozialkultur. Wieviel in der modernen Gestaltung des Lebens ihr förderlich ist, daran wurde schon früher erinnert; eben jene Gestaltung ließ den Menschen deutlich empfinden, wie sehr er inmitten aller scheinbaren Freiheit am Ganzen hängt, ja wie die freiere Bewegung selbst stark zur Einschränkung des Einzelnen wirkt, indem sie ihn in mehr Berührung mit der Umgebung bringt und deren Einfluß von allen Seiten auf ihn eindringen läßt. Alles derartige zusammenfassend und die Kräfte zu gemeinsamer Arbeit verbindend, erstrebt die moderne Sozialkultur eine Ordnung des menschlichen Daseins, welche den Gesamtstand wesentlich hebt, im besonderen eine Atmosphäre des Wohlwollens und des Wohlseins schafft, in der sich alle Kräfte entfalten und alle Zustände bessern können. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein solches Wirken vornehmlich von außen nach innen geht, daß es mit der Herstellung glücklicher Lebensbedingungen, sowie zweckmäßiger Einrichtung des Zusammenlebens beginnt, in festem Vertrauen darauf, daß dem ein Fortgang des Inneren entsprechen werde. Denn was das Ganze gewinnt, das scheint sich notwendig auch in die einzelnen Seelen zu senken. So wird hier das Handeln vornehmlich auf die Umgebung gerichtet, es findet seine Höhe in eifrigem Wirken für andere und das gesellschaftliche Ganze; damit wird alle Ethik zur Sozialethik, und statt der Gottheit wird hier die Menschheit zum Gegenstand der höchsten Verehrung. Demgemäß ist es auch die Leistung für den gemeinsamen Lebensstand, die über die Bedeutung und die Gestaltung der einzelnen Lebensgebiete, zum Beispiel der Kunst und der Wissenschaft, entscheidet. Daß auch der Wahrheitsbegriff sich dieser Denkweise anpassen kann, das zeigt der Pragmatismus, der, aus Amerika stammend, auch in Europa zahlreiche Anhänger fand. Der Gefahr, die von dieser Sozialkultur aus der Selbständigkeit der Individuen droht, wird dadurch zu begegnen gesucht, daß sich mit jener Bewegung eine demokratische Tendenz zu verbinden pflegt, das Streben, möglichst alle zur unmittelbaren Teilnahme und Entscheidung aufzubieten und so einem jeden die Ordnung des Ganzen auch zur eigenen Tat zu machen oder doch als eine solche erscheinen zu lassen. Bemerkenswert ist auch, daß eben auf modernem Boden das freie Zusammenleben und die eigene Bewegung der Kräfte viel Organisation hervorgebracht hat, wie sie früher nur von oben herab aus einer überlegenen Gedankenwelt möglich schien; denken wir nur an die Gewerkschaften und ihr hervorragendes Wirken im Kriege!

      Die Leistungen dieser Sozialkultur liegen deutlich zutage. Ihre Richtung der Arbeit auf die Wohlfahrt aller hat viel Not und Härte ausgetrieben, mehr Freude und Milde in das Leben gebracht, sie hat hilfreiche Tätigkeit in alle Verzweigung des Daseins eingeführt, jedem Menschenwesen ein Recht zuerkannt und es damit auch im eigenen Bewußtsein gehoben, sie hat zugleich ein Gefühl der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen für den Stand des Ganzen geweckt, sie hat mit dem allen eine höchst wertvolle Weiterbildung des menschlichen Daseins vollzogen. Aber das alles berechtigt sie noch keineswegs zur ausschließlichen Führung des Lebens; sie kann eine solche nicht unternehmen, ohne auch ihre Schranken erkennen zu lassen. Diese Schranken betreffen aber sowohl das hier gesteckte Ziel als die Mittel zu seiner Erreichung. Der Mensch geht in Wahrheit nicht auf in das Verhältnis zum Nebenmenschen, er hat auch ein Verhältnis zu sich selbst und in engem Zusammenhang damit eins zum All und muß von daher Maße des Lebens entlehnen; auch kann er sich unmöglich so in seinen Zustand verschließen und alles nach der Wirkung dafür bemessen, daß ihm alles Gegenständliche gleichgültig wird, da erst dessen Aneignung dem Leben eine innere Weite und zugleich eine reine Freude zu geben vermag. Einem Wesen, das mit seinem Denken sich zur Unendlichkeit und Ewigkeit zu erheben und von da den eigenen Stand zu betrachten vermag, wird die bloße Wohlfahrt, ein möglichst schmerzfreies und genußreiches Leben, und sei es auch das Leben aller, ein viel zu geringes Ziel; auch dessen Erreichung beließe ihn in einer völligen inneren Leere, die als endgültiger Stand gedacht peinvoller ist als aller Schmerz. Wer direkt auf Glück im Sinne der Wohlfahrt ausgeht, der muß