Die Antworten der Zeit.
Die älteren Lebensordnungen.
Die religiöse Lebensordnung.
Von den verschiedenen Lebensordnungen, die den Menschen der Gegenwart umwerben, wirkt am stärksten auf das Ganze noch immer die der Religion. Ein Erbe uralter Zeiten hat die Religion durch besondere Erfahrungen des ausgehenden Altertums eine herrschende Stellung erlangt; jene Zeiten ließen den Menschen sowohl die Nichtigkeit des gewöhnlichen Lebens als das eigene Unvermögen mit peinlicher Schärfe empfinden und erfüllten ihn zugleich mit einer tiefen Sehnsucht nach einem neuen Leben, ja einer neuen Welt. Ein solches Leben hat in unserem westlichen Kulturkreise das Christentum ausgebildet, es hat, nachdem das leidenschaftliche Verlangen nach Rettung der Seele sich später geklärt und gemildert hatte, ein religiöses Lebenssystem geschaffen und ihm alle Kulturarbeit angefügt; dies Lebenssystem hat durch die Kette der Jahrhunderte hindurch seine Macht bis zur Gegenwart behauptet und hält auch heute den Anspruch auf Beherrschung der Seelen noch aufrecht.
Diese religiöse Lebensordnung setzt mit einer heroischen Kraft die Welt, die uns umgibt, zu einer niederen herab und macht eine unsichtbare Welt des Glaubens und des Gemütes zur geistigen Heimat des Menschen; zugleich vollzieht sie eine energische Konzentration, indem sie zum alleinigen Ziel des Lebens und Strebens die Einigung mit dem Geist vollkommener Macht, Weisheit und Güte erhebt. Mit ihrer Einführung absoluter Maße wird sie der Quell aller Erhabenheit, die das menschliche Leben kennt, zugleich aber läßt sie, und sie allein, das Leben eine reine Innerlichkeit, ein volles Beisichselbstsein, gewinnen, indem es hier an erster Stelle ein Verhältnis von endlichem und unendlichem Geiste wird. Aus solcher Innerlichkeit vermag es den Menschen unvergleichlich mehr sich selbst zu erschließen, und lehrt es zugleich die Menschen sich gegenseitig besser verstehen und inniger miteinander fühlen. Das hier entwickelte Leben hat bei seinem Wurzeln in göttlicher Liebe eine große Weichheit und Zartheit, aber der Liebe verbindet sich eng die Heiligkeit einer sittlichen Ordnung und gibt dem Leben bei aller Innigkeit einen unermeßlichen Ernst.
In diesem Zusammenhange durfte der Mensch von sich und seinem Tun aufs Höchste denken. Als Ebenbild Gottes bedeutete er den Mittelpunkt der Wirklichkeit, um den sich das All bewegte, und dessen Tun über seine Geschicke entschied. Wohl hatte der Einzelne sich dem Ganzen des Gottesreiches gliedmäßig einzufügen, aber zugleich bildete er einen eigenen Kreis und wurde als ein Selbstzweck behandelt; zur Vollendung des Ganzen, das kein Glied missen durfte, gehörte auch seine Rettung.
Diesem Leben fehlte es nicht an Sorgen, Nöten und Schmerzen, die Höhe der Forderung und der weite Abstand des Menschen verhinderten alles bequeme Behagen und alles spielende Glück, ja das Gewicht von Leid und Schuld schien mehr zu wachsen als abzunehmen. Aber die Grunderfahrung der Religion, die Befreiung von drückender Schuld und die Schöpfung eines neuen Lebens durch göttliche Liebe und Gnade, hob den Menschen über den ganzen Bereich von Kampf und Not hinaus; die Einigung mit Gott ließ ihn ein vollkommenes Leben und hohe Seligkeit teilen, in die freilich für den Menschen immerfort der überwundene Schmerz hineinklingt. Wohl verblieb der Widerstand einer gleichgültigen, ja feindseligen Welt, aber in Zweifel versetzen und das Streben lähmen konnte er nicht. So war es kein leichtes Leben, das hier entstand, aber es war ein Leben voller Bewegung und in sicheren Zusammenhängen, es war kein leeres, kein sinnloses Leben.
So hat die religiöse Lebensordnung lange Jahrhunderte beherrscht, sie hat Individuen und ganze Völker verbunden, sie hat unzähligen Seelen sowohl eine kräftige Aufrüttelung als seligen Frieden gebracht. Ihr eigentümlich sind besonders die schroffen Kontraste, worin sie das menschliche Leben versetzt: die Gottheit zugleich in weltüberlegener Hoheit und in nächster seelischer Nähe (»Gott ist mir näher als ich mir selber bin«, Meister Eckhart), der Mensch verschwindend klein und doch zur Gemeinschaft mit dem Höchsten berufen, Liebe und Ehrfurcht, Milde und Ernst eng miteinander verflochten, tiefes Dunkel und strahlendes Licht, Elend und Seligkeit sich gegenseitig steigernd, ein Aufstieg zum Ja durch ein Nein hindurch, eine volle Anerkennung, aber zugleich auch Heiligung des Leides, in dem allen eine starke Bewegung, die allererst der Seele des Einzelnen wie dem Leben der Menschheit eine wahrhaftige Geschichte eröffnet und diese zum Kern aller Wirklichkeit macht, ein unablässiges Hinausstreben über alle Gegenwart bloßer Zeit, aber zugleich ein sicheres Ruhen in einer gegenwärtigen Ewigkeit. Eine so heroische Größe und zugleich eine solche Innigkeit hat das Leben an keiner anderen Stelle erreicht.
Trotzdem haben sich gegen dieses Leben starke Zweifel erhoben, Zweifel nicht bloß aus eitler Widerspruchslust flacher Seelen, sondern auch aus dem heiligen Ernst eines Ringens um lautere Wahrheit. Bedenken entstanden zunächst aus der eingreifenden Veränderung, welche seit Beginn der Neuzeit das Bild der Natur und bald auch das der Geschichte empfing, es ergab das wachsenden Widerspruch nicht nur an einzelnen Stellen, wie bei der Frage der Wunder, sondern die ganze Welt der Religion konnte von hier aus als zu eng und mit viel menschlicher Zutat behaftet erscheinen. Dieser Widerspruch der Weltbetrachtung läßt sich überschätzen, er läßt sich aber auch unterschätzen. Sicherlich ist Religion etwas anderes als bloße Weltanschauung, aber einen Widerspruch mit gesicherten Zügen des Weltbildes kann auch die Religion nicht ohne schweren Schaden ertragen; ihre Wahrhaftigkeit leidet darunter, wenn sie einer Auseinandersetzung mit ihm aus dem Wege geht. Tiefer freilich geht die schärfere Scheidung der geistigen Arbeit vom menschlichen Seelenstande, wie das moderne Denken sie vollzogen hat. Der Mensch konnte danach als ein Sonderwesen erscheinen, das ganz unfähig ist, die Welt in seine Begriffe zu fassen und ihre Tiefen zu ergründen; die Religion erschien von da aus leicht als ein bloßes Hineintragen menschlicher Bilder und Wünsche in das All, sie konnte diesem Gedankengange schließlich als ein bloßes Wahnbild erscheinen. Aber gegen das alles hätte sich kämpfen und die Grundwahrheit der Religion auch gegen den schroffsten Widerspruch durchsetzen lassen, wäre das Ganze des Lebens in der Verfassung geblieben, aus der die Wendung zur Religion hervorging. Hier aber war ein Umschlag erfolgt, der den Gesamtstand völlig verschob. Jene Wendung war in einem Bruch mit der nächsten Welt entstanden, zu einer Zeit, wo die Menschheit den Glauben an sich selbst und ihr Vermögen verloren hatte, wo sie im besonderen einen schweren moralischen Zwiespalt empfand, und wo nur das Ergreifen einer neuen Welt ihre geistige Vernichtung schien verhüten zu können. Nun aber hatten neue Völker in langen Jahrhunderten der Erziehung neue Kraft gesammelt, und diese Kraft strebte mit dem Beginn der Neuzeit nach voller Betätigung, die nächste Welt wurde ihr zum willkommenen Vorwurf, und das Wirken in ihr drängte die moralischen Probleme, drängte im besonderen den moralischen Zwiespalt der Seele weit in den Hintergrund. Wenn aber solche Wandlung des Lebensgefühls kein starkes Verlangen nach einer Erlösung und völligen Umwandlung aufkommen ließ, so verlor die Religion ihre seelische Nähe und ihre Überzeugungskraft; die Gefahr entstand, daß sie mehr als ein Erbstück der Vergangenheit fortgeführt wurde, als aus eigener Erfahrung hervorging, ja daß sie als eine bloß gesellschaftliche Einrichtung erschien und als solche aus Gründen der Wahrhaftigkeit hart angefochten wurde. Eine derartige Bewegung hat sich von der Höhe der Gesellschaft, wo sie entstand, immer mehr in die breiten Massen gesenkt; wie weit sie auch bei uns Deutschen um sich gegriffen hat, das würde noch deutlicher zutage treten, wenn nicht