Von solcher Überlegenheit aus muß ihm aber die naturalistische Lebensordnung als durchaus unzulänglich erscheinen. Denn folgerichtig durchgedacht muß sie alles Bestehen einer Innerlichkeit und allen Wert von inneren Gütern, muß sie zum Beispiel Größen wie Gesinnung, Pflicht, Ehre, Persönlichkeit, Charakter als völlige Einbildungen verwerfen, als ebenso verderbliche Einbildungen, wie es nach ihrer Meinung die Ideen von Gott und Weltvernunft sind. Das will jene Lebensordnung nicht, gewiß nicht; auch sie hält an jenen Größen fest, auch sie will Moral, auch sie will eine Veredlung des Menschen, aber sie kann das nur in Widerspruch mit den eigenen Grundgedanken. Selbst den Begriff der Wahrheit kann sie nur in solchem Widerspruch beibehalten. Denn wie kann von einer gemeinsamen und zwingenden Wahrheit die Rede sein, wenn nur einzelne Individuen mit ihren verschiedenen, unablässig wechselnden Meinungen nebeneinanderstehen, und wenn aus ihrem Zusammensein höchstens ein gewisser Durchschnitt hervorgeht? Auch für echte Kultur ist hier kein Platz. So sehr jene Ordnung die Lebensbedingungen nach allen Richtungen hin zu verbessern vermag, sie gibt damit dem Leben weder eine innere Bildung noch irgendwelchen Gehalt, sie überliefert es geistiger Leere; über die bloß äußere Ordnung der Lebensverhältnisse, die Zivilisation, kommt sie mit eigenen Mitteln nun und nimmer hinaus.
So kann die naturalistische Lebensordnung die höheren Forderungen des Menschenwesens nur in Widerspruch mit sich selbst festhalten; daß bei solchem inneren Widerspruch zur Erfüllung jener viel geschehen kann, ist schwerlich zu erwarten. Die Leere und Sinnlosigkeit, in die hier das Leben gerät, muß augenscheinlich und zugleich unerträglich werden, sobald die Frage aufs Ganze gerichtet wird, was der zum Denken erwachte Mensch schließlich doch nicht unterlassen kann. Was wird hier aus dem Ganzen des Lebens, was aus dem Lebensstand der Menschheit? Kein inneres Band verknüpft hier die Menschheit mit dem All, auch kein solches Band die Menschen untereinander. Wir mühen und hasten uns im wilden Lebenskampf, damit sich mehr und mehr Kraft entfalte, aber es gibt nichts, dem diese Kraft zugute komme, es gibt keine Möglichkeit, sie in ein wahrhaftiges Leben eines Beisichselbstseins überzuführen. Die der Kraftentfaltung anhangende Lust steht in grellem Mißverhältnis zu all der Mühe und Arbeit, all der Aufregung und Aufopferung, welche die Erhaltung des Lebens vom Kulturmenschen fordert. So viel Verwicklung und Umständlichkeit in Erziehung und Bildung, in staatlicher Ordnung und sozialem Aufbau, und das alles, damit wir im wesentlichen dasselbe erreichen, was das Tier so viel leichter erreicht!
Über solche Bedenken sich leicht hinwegsetzen kann nur, wer einem starken Optimismus gegen den Menschen und die menschliche Lage huldigt, wer keine inneren Verwicklungen, keine schweren Probleme in ihr anerkennt. So ging in der Tat der Naturalismus oft mit einem flachen Optimismus zusammen. Dieser Optimismus hatte schon vor dem Kriege manche Erschütterung erlitten, es waren im menschlichen Leben manche Probleme und Widersprüche ersichtlich geworden, denen gegenüber der Naturalismus vollständig wehrlos ist; so waren seine Flitterwochen schon vorher abgelaufen. Die Erfahrungen des Weltkrieges müssen das weiter vertiefen. Denn wären wir in den ungeheuren Erschütterungen, die er bringt, und den Problemen, die er eröffnet, allein auf die Hilfen angewiesen, die der Naturalismus zu bieten vermag, so bliebe nichts anderes als eine völlige Verzweiflung, ein trostloser Pessimismus. Und einem solchen Abschlusse wird doch die Menschheit mit aller Kraft widerstehen, selbst in den schweren Verlusten und den durch sie geweckten Zweifeln wird sie eine Überlegenheit gegen die bloße Natur empfinden. Das Leid selbst erweist sich als der stärkste Gegner des Naturalismus, sobald es ins Innere gewandt wird.
So wird dieser seinen Anspruch auf eine führende Stellung nicht durchzusetzen vermögen. Aber glauben wir deshalb nicht, daß wir schon mit ihm fertig sind, daß nicht viele offene Fragen verbleiben. Die naturalistische Lebensordnung hat nicht nur einzelne Daten aufgedeckt und zur Geltung gebracht, ihr Verdienst ist, in zwingender Weise einer ganzen Seite unseres Lebens zur Anerkennung verholfen zu haben, die ihr früher mit Unrecht versagt ward. Diese Anerkennung läßt sich aber nicht vollziehen, ohne daß schwierige Fragen erwachen, manche Zweifel entstehen, das Ganze unseres Lebens eine neue Beleuchtung erhält. Den Naturalismus zu schelten mag der landläufigen Apologetik als ein billiges Vergnügen überlassen bleiben; die vom Naturalismus vertretene Tatsächlichkeit im Ganzen des Lebens zu würdigen ist eine Aufgabe, die noch immer recht viel zu tun gibt. Der Mensch ist nicht bloß Natur, aber er ist weit mehr Natur, als die älteren Ordnungen ihm zuerkennen, und dieses Mehr wird nicht eher zur Ruhe kommen, als bis es sein Recht gefunden hat.
Die Wendung des Menschen zu sich selbst.
Die Sozial- und die Individualkultur.
Wenn das Dasein Gottes dem Menschen ungewiß wird und die Weltvernunft ihm verblaßt, wenn zugleich die Natur eben bei wachsender äußerer Annäherung ihm innerlich fremder wird und sein seelisches Leben leer läßt, so scheint, um unserem Dasein einen Sinn und Wert zu bewahren, nur noch ein einziger Weg zu verbleiben: die Wendung des Menschen zu sich selbst, die Ergreifung, Nutzung, Ausbildung alles dessen, was im eigenen Bereiche vorgeht. Solche Wendung läßt sich aber in zwiefachem Sinne verstehen. Einmal kann sie bedeuten, daß der menschliche Kreis die Stätte bildet, wo allein sich uns Tiefen der Wirklichkeit erschließen, von wo aus alles zu entwickeln ist, was mehr aus uns machen soll; dann geht der Mensch keineswegs in das Bild auf, das sein unmittelbarer Anblick zeigt, dann können große Möglichkeiten in ihm liegen und weitere Zusammenhänge von Welt und Leben von ihm aus ersichtlich werden. So erfahren wir es heute in erhebender Weise, wenn uns der Mensch in Staat und Nation weit über den nächsten Anblick hinauswächst. Dies aber soll uns später beschäftigen, an dieser Stelle kommt nur in Frage, ob das moderne Leben eine Bewegung enthält, vom Menschen, wie er in der Erfahrung vorliegt, vom Menschen, wie er leibt und lebt, eine allumfassende Lebensordnung als eine reine Menschenkultur aufzubauen. Das würde die Behauptung schärfer zuspitzen und dem Leben eine engere Bahn abstecken. Eine derartige Behauptung ist aber in der Tat vorhanden und hat einen eigentümlichen Anblick vom Leben und Sein hervorgebracht. Während von früheren Zeiten her und bis in die Gegenwart hinein der Mensch sich selbst und seinen Kreis im Lichte einer unsichtbaren Welt, sei es des Gottesreiches, sei es einer Weltvernunft, sieht und versteht, ist neuerdings auch eine breite Bewegung dahin aufgekommen, ihn ganz und gar auf das sichtbare Dasein zu stellen, hier alle Ziele zu suchen, ihn mit seinesgleichen nicht durch irgendwelche Vermittlung eines Gedankenreiches, sondern nur