»Oh, sch…!«
Die Wiedergeburt des schillernden Gottes
Axel Pirker
… wenn ich das Land Ägypten verwüstet und alles, was im Lande ist, öde gemacht und alle, so darin wohnen, erschlagen habe, dass sie erfahren, dass ich der HERR sei!
Diese Worte waren es, die sich in Chepres Gedächtnis eingebrannt hatten, läuteten sie doch einst den Anfang vom Ende ein. Gesprochen von jenem, der keinen Namen trug, standen sie am Anfang von seinen Überfällen, grausame Kreuzzüge, mit denen er Chepres Geschwister und all jene, die ihnen folgten, niederzustrecken suchte. Jahrtausendelang sollte sein Blutdurst durch die Länder ziehen, verkörpert durch Locust und Plagen, alles in seinem Weg vernichtend.
Die Mächtigsten von ihnen waren die ersten Ziele seiner Angriffe, Ra, dessen Tod den Himmel verdunkelte, gefolgt von Sobek dessen Blut den Nil rot färbte. Einer nach dem anderen fielen die großen Götter, bis keiner mehr übrig war. Die Geringeren von ihnen suchten sich zu verstecken, erfolglos, drang der Namenlose doch in jedes Haus ein, zerschmetterte jeden Tempel, durchkämmte jede Wüste, bis keiner mehr übrig war, keiner außer Chepre.
Da saß er nun, sein Panzer golden glänzend in der Sonne, allein in einer Wüste, besiegt, doch nicht gebrochen. Seine dünnen Fühler zuckten unruhig, suchten nach etwas, einer Sache, die nicht da zu sein schien.
Jahrtausendelang war er bereits auf der Flucht vor einem Feind mit vielen Formen, der ihm mal als Frosch in der Oase, mal als Heuschreckenschwarm am Himmel erschien, stets auf der Suche nach jenem Letzten, der ihm fehlte, um sein grausames Werk zu beenden. Stets spürte er die Präsenz des Monsters, wie es ihn Tag und Nacht jagte, wie seine Stimme im Wind flüsterte und die Sterne selbst ihm als Augen dienten. Doch dem war nicht länger so.
Es hatte vor über hundert Jahren begonnen, einst kaum merklich, doch mit der Zeit immer klarer. Die Kraft des Namenlosen war am schwinden! Jeden Tag ein bisschen mehr, die allgegenwärtige Präsenz nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe, bis sie heute zum ersten Mal vollständig erloschen war.
Zunächst dachte Chepre, es handelte sich um eine Fata Morgana, dachte, dass sein göttlicher Verstand, nach all der Zeit unter der heißen Wüstensonne, ihm nun endgültig entglitt. Er suchte stundenlang nach jener Bedrohung, die vor nicht allzu langer Zeit zum Greifen nah war, doch so sehr er sich auch bemühte, er fand sie nicht. Etwas war geschehen.
Nach stundenlanger, erfolgloser Suche entschied er, dass seine Sinne ihn nicht täuschten. Etwas war geschehen und er würde der Sache auf den Grund gehen. Die sechs dünnen Beine in Bewegung setzend, stieg er von Sandkorn zu Sandkorn, krabbelte rasch und zielstrebig im Schatten der Dünen, die berghoch aufragten. Er eilte voran, zur nächsten menschlichen Siedlung. Stunden später sollte es kein einfaches Dorf sein, dass er fand, sondern die größte Metropole die er während seiner langen Existenz je erspähte.
Chepre wagte es kaum, seinen Facettenaugen zu trauen, beim Anblick des Panoramas, das sich da vor ihm erstreckte. Rasch erklomm er die nächstgelegene Düne, um einen besseren Aussichtspunkt zu erreichen, gelegentlich zurückgeworfen von rutschendem Sand doch immer noch unaufhaltsam, bis er schließlich am höchsten Punkt des gelben Berges angelangt war. Erneut verinnerlichte er, was da vor ihm lag, immer noch versetzte es ihn in Staunen. Was einst eine Siedlung gewesen war, hatte sich während seines Exils zu einer Stadt entwickelt, von ihm bislang unbekannten Ausmaßen. Unzählige steinerne Türme ragten dem Himmel entgegen, Bauwerke, die selbst die großen Pyramiden in ihren Schatten verschwinden ließen. Zwischen den Gebäuden eilten Menschen umher, mehr als Chepre je zuvor gesehen hatte, wie ein Fleisch gewordener Fluss strömten sie durch die Gassen und Straßen.
War dies das Werk des Namenlosen? Chepre und seine Geschwister hatten die Menschen über unzählige Generationen hinweg geführt, sie aus der unbarmherzigen Wildnis hervorgehoben um sie schließlich in die Wiege ihrer eigenen Zivilisation zu legen. Er hatte gedacht, dass das Volk ohne die Führung des Pantheons an den Rand des Aussterbens geraten wäre, doch das Gegenteil war der Fall.
Eine Mischung aus Ehrfurcht und Respekt packte den alten Gott, nie hätte er sich träumen lassen welche Entwicklungen sich am Rande seiner Wüste zugetragen hatten. Doch trotz der klaren Einflüsse des Namenlosen war auch hier nichts von seiner Macht zu spüren. Nicht in den großen Bauwerken, nicht in jenen, die sie bewohnten, nichts von ihm schien zurückgeblieben zu sein.
Der kleine Skarabäus öffnete seinen Panzer und ließ schillernde Flügel zum Vorschein kommen. Er musste sich das Ganze näher ansehen. So flog er in die Stadt, zunächst mit Bedacht, doch bald schon ließ eine nicht länger zu unterdrückende Neugier ihn jede Vorsicht über Bord werfen. Surrend flog er durch die Stadt, frei sich zum ersten Mal seit Jahrtausenden ohne Furcht zu bewegen, und das tat er auch, zumindest bis er erstmalige Bekanntschaft mit einem bis dahin unbekannten Material namens Glas machte.
Hart schlug er gegen die transparente Barriere, der Aufprall machte ihn benommen, ließ ihn zu Boden stürzen, wo er verwirrt auf den Rücken fiel, die Beine hilflos in der Luft zappelnd.
Als der Schleier der Benommenheit sich lichtete, sah er am Rande seines Sichtfelds einen Menschen, der sich direkt auf ihn zubewegte, ein gewaltiger Koloss, dessen Schritte den Boden erbeben ließen. Verzweifelt versuchte der Gott, sich aufzurichten, doch die Ewigkeit im Sand hatte ihn vergessen lassen, wie er sich auf festen Texturen umzudrehen vermochte, und die Erde unter ihm blieb unnachgiebig gleich, so sehr er sich auch bemühte, sie anzupassen.
Der Schatten des Todes ereilte ihn schließlich in Form einer billigen Sandale. Mit einem knirschenden Geräusch gab seine Panzerung dem Druck nach. Chepre starb.
***
Chepre erwachte erneut in einer Welt der Dunkelheit. Es war nicht einfach eine Finsternis, die auf die Abwesenheit von Licht zurückzuführen war, es war eine Schwärze, in deren Welt Licht nicht zu existieren vermochte. Er kannte diesen Ort besser, als ihm lieb war, war es doch die Unterwelt, die er so sehr scheute. Einst war sie voller Leben gewesen, angereichert mit all jenen, die aus der Welt der Sterblichen geschieden waren, Menschen und Tieren. Auch manch ein Pharaoh ließ sich hier finden, mit seiner Dienerschaft aus Uschebti, die ihm wohlwollend zur Seite standen.
Diese Zeiten gehörten jedoch der Vergangenheit an. Durch den Verlust seiner Macht vermochte Chepre es nicht länger, die Sonne aus der Welt der sterblichen des Nachts in die Unterwelt zu rollen, wo sie den Toten dieselbe Kraft spenden konnte, wie sie es bei den Lebenden tat. Seit dem Fall des Pantheons stand sie nun bereits fest am Himmel, so lange, dass die Welt begonnen hatte, sich um sie zu drehen, wie ein perverser Umkehrschluss des einstigen Systems. Es belastete den Gott sehr, zu sehen, wie eine der zwei Welten, um die er sich einst so sorgsam gekümmert hatte, durch seine Untätigkeit verfallen war…
Nicht länger! Zum ersten Mal seit tausenden von Jahren schöpfte er neue Hoffnung. Er würde sie sich nicht von dieser Welt nehmen lassen! Er war der, der sich selbst erschaffen hatte, er zwang sich aus der Leere des Nichts in die Existenz und er würde sich auch nicht von den Fesseln der Unterwelt halten lassen.
Der Gott begann sich zu konzentrieren, auf jene Momente, die vor den ersten Sekunden seines Lebens standen, das Gefühl, existieren zu wollen, ohne auch nur zu wissen, was es hieß zu existieren. Der Drang, zu sein! Erinnerungen jener Zeit visualisierten sich, Gefühle wie kein anderes Wesen sie je gekannt hatte, war es doch nicht das Leben, nach dem es ihn strebte, sondern blanke Existenz!
Nichts passierte. Hatte er etwas falsch gemacht? Er versuchte es ein weiteres Mal! Und ein weiteres Mal! Wieder und wieder, jeder Versuch erfolglos. War er verdorben vom Nektar der Existenz, war es nicht dasselbe aus dem Tod in die Welt des Lebens zurückzukehren, als sie das erste Mal aus dem Nichts heraus zu betreten? Stundenlang bemühte er sich weiter, doch die Dunkelheit wich nicht, gab ihn nicht dem Leben preis.
Er wollte bereits aufgeben, geschlagen sein müdes Haupt senken, da bemerkte er eine Veränderung.