Kemet. Melanie Vogltanz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Melanie Vogltanz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783945045657
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Die cholerische Dame hatte ihr wütendes Wesen im Lauf der Zeit einfach abgestreift und an die Göttin Sachmet abgegeben. Sie werden sie beide während der Lektüre des Buches noch kennenlernen. Der für die vorliegende Anthologie wichtigste Gott aber ist der pavianköpfige Thot. Immerhin ist er der Gott der Schreiber und der Schutzherr der Bibliotheken. Alles klar?

      Was also haben Sie als Leserin oder Leser dieses Buches nun eigentlich vor sich? Stellen Sie sich darauf ein, dass die Götter Ägyptens zurück sind. Aber wer glaubt noch an sie? Richtig. Niemand. So sind unsere göttlichen Helden geschwächt und müssen sich, so gut es geht, in ihrer unwürdigen Situation zurechtfinden. Begeben Sie sich auf eine Reise um die ganze Welt, denn die übernatürlichen Helden der folgenden Erzählungen haben sich über den Erdball verstreut. Einige sind aus der heimischen Wüste nach Deutschland gegangen, andere sogar bis in die USA. Einige machen Karriere, andere sinnen auf Rache für vergangene Niederlagen. Einige werden Online-Stars, andere Pathologen. Und manchmal ist nicht nur Liebe, sondern auch Magie im Spiel. Die Personifizierungen von Himmel, Sonne und Tod werden dabei selbst fast zu Menschen, erleben die ganze Palette der Gefühle und müssen sich nicht mehr nur mit ihresgleichen, sondern mit ganz normalen Leuten auseinandersetzen. Und das (beinahe) auf Augenhöhe.

      Ach so, und wundern Sie sich nicht, dass manche Charaktere hier in verschiedenen Rollen und Konstellationen auftreten. Sie sind eben ganz schön vielseitig. Und absolut göttlich!

       Akram El-Bahay

       Prolog

      Das Auge der Macht

       Udo Brückmann

      

      Die Wetterdienste der Welt standen vor einem Rätsel: Innerhalb weniger Stunden hatten sich in der Stratosphäre der Erde riesenhafte Wolkentürme gebildet, was bis zu diesem Zeitpunkt von den renommiertesten Forschungseinrichtungen als absolut unmöglich eingestuft worden war. Die Ozon-Werte spielten verrückt, graue Nebelschwaden bedeckten allerorts den Himmel und verwandelten die stickige Luft in einen flirrenden Dunst, der sich ungehindert ausbreiten konnte. Der Einsatz von Chemikalien, die in vielen Ländern von Flugzeugen aus versprüht wurden, änderte daran nichts. Die Maschinen blieben infolgedessen am Boden. Durch verschiedene Staatsregierungen eilig angeordnete Maßnahmen der Wettermanipulation – mit dem Status streng geheim – schlugen ebenfalls fehl.

      Bald verdichtete sich der Dunst zu einem feinen, dunklen Staub, der wie ein gigantischer Insektenschwarm den Planeten umhüllte als folge er einer allmächtigen Anweisung. Ausschließlich Ägypten meldete nur leichte Vorkommnisse.

      Weltweit zeigten Fernsehgeräte das Geschehen. Nationale und internationale Nachrichtensender überboten sich mit Sondersendungen. Experten in den Studios sowie Atemmasken tragende Reporter vor Ort kommentierten die unheimlichen Ereignisse. Nicht selten trafen widersprüchliche Erklärungen aufeinander. Eine lokale ägyptische Nachrichtenagentur hatte die Meldung herausgegeben, dass offenbar ein Meteorit beziehungsweise ein fremdartiger Himmelskörper beim Eintreten in die Erdatmosphäre verglüht sei. Dieses plötzliche Leuchten habe man besonders in Oberägypten – speziell in Luxor – beobachten können. Trotz unabhängiger Augenzeugenberichte schaffte es die Meldung nicht in die globalen Sender.

      »Meine Damen und Herren, wir schalten jetzt live nach New York, wo der UN-Sicherheitsrat eine Dringlichkeitssitzung einberufen hat«, so die Ankündigung der adretten Moderatorin einer amerikanischen TV-Station. »Verschiedene Geheimdienste«, so die Sprecherin weiter, »überprüfen eine Spur in den Kreml wegen des Verdachts auf Entwicklung einer neuartigen Waffentechnologie, deren Tests vermutlich wegen einer explodierten Sojus-Rakete außer Kontrolle geraten sind …«

      Russland wies die Vorwürfe auf der Stelle zurück und machte hingegen die USA für die bedrohlichen Verhältnisse verantwortlich.

      Unsicherheit und Angst brachen sich Bahn unter den Menschen, das öffentliche Leben erlitt erste Einschränkungen. In den meisten Ländern galt nicht nur in den großen Städten Smog-Alarm der Stufe Rot mit den daraus folgenden Konsequenzen für den Verkehr. Die Messungen überschritten das mehr als Dreißigfache des zugelassenen Wertes. Tausende Flüge wurden annulliert. Die Radarsysteme unterlagen zeitweise erheblichen Störungen, größere Flughäfen auf allen Kontinenten registrierten dutzende Notlandungen. Kurz, das Chaos nahm seinen Lauf.

      Die Berichterstattungen überschlugen sich, obskure Sensations-meldungen bestätigten sich nach und nach. Breaking News ohne Pause. Was war geschehen? Die großen Obelisken in verschiedenen Metropolen der Welt, die »Himmelsnadeln Ägyptens«, verband fast zeitgleich dasselbe unergründliche Phänomen: Aus ihren Spitzen schoss jeweils ein gewaltiger Feuerstrahl in die Höhe und erfüllte den bedeckten Himmel kilometerweit mit gleißend hellen, zuckenden Blitzen nie dagewesenen Ausmaßes. Sprühende Funken umgaben spiralförmig von unten nach oben die fantastisch anmutenden Stelen. Nacheinander schlugen Blitze unter lautstarkem Getöse in die Obelisken ein, woraufhin sich der Vorgang mehrmals von Neuem wiederholte. Dieser energetische Akt, der den Bauwerken keinerlei Schäden zufügte, wurde an sieben Standorten der anscheinend eigens dafür ausgewählten Steinpfeiler mit Fernsehkameras dokumentiert: auf dem Plaza de la República in Buenos Aires, auf dem Platz des Aufstandes in St. Petersburg, am Washington Monument zwischen Kapitol und Lincoln Memorial, beim Victoria Embankment an der Themse in London, auf dem Petersplatz in Rom, auf dem Place de la Concorde in Paris und vor der Tempelanlage in Luxor unweit des Nils. Nicht nur in den betroffenen Ländern, sondern auf dem ganzen Planeten warteten die Menschen in ungläubiges Staunen versetzt, während führende Kirchenvertreter vor der nahenden Apokalypse warnten. Die Einschaltquoten stellten überall neue Rekorde auf.

      Oberhalb der Obelisken trat aus dem dunklen Staub des Himmels jeweils ein pulsierendes leuchtendes Auge hervor, das aufgrund seiner enormen Größe und Helligkeit an allen Erscheinungsorten weithin sichtbar war. Die Fernsehreporter identifizierten es nach kurzer Recherche als das linke Udjat-Auge, das altägyptische Symbol für die abhanden gekommene weibliche Macht des Mondes. Es bestand aus magisch glänzendem Licht, das die Menschen nicht nur an den sieben betroffenen Orten in ihren Bann zog. Je intensiver die Udjat-Augen strahlten, desto schwächer wurden die Blitze.

      Als auch die spiralförmigen Funken die Obelisken nicht mehr umkreisten, brachen weltweit sämtliche Fernseh- und Internetübertragungen zusammen. Laufende Programme setzten abrupt aus und sendeten von einer Sekunde zur nächsten lediglich ein schwarzes Bild. Nach einigen Minuten aber fing es an zu flimmern. Gestochen scharf zeigten die gleich geschalteten Bildschirme in allen Ländern der Erde statt des UN-Sicherheitsrates oder hektischen Reportern mit Mikrofonen dieselbe Szene, an deren Realität die meisten Menschen jedoch sehr zweifelten.

      Vor der Widder-Allee und dem Obelisken der berühmten Tempelanlage in Luxor saßen – wie bei einer Pressekonferenz – hinter einem weißen, marmornen Tisch sieben imponierende Geschöpfe: Unter den vier Frauen gab es eine mit einem Kuhkopf sowie eine mit einem Katzenkopf und langen Schnurrhaaren. Die beiden anderen Frauen mit menschlichen, auffallend hübschen Gesichtern trugen zum einen eine rote Sonnenscheibe inmitten zweier Kuhhörner und zum anderen eine große Straußenfeder auf dem schwarzen Haar. Einer der stattlichen Männer mit nackter Brust zeigte sich würdevoll mit zwei überdimensionalen Pfauenfedern als Krone, der zweite hatte einen Falkenkopf mit nur einem und zwar dem rechten Auge und der dritte einen grässlichen Krokodilskopf, dem der Speichel aus dem Maul tropfte.

      Dieser Anblick war tatsächlich unfassbar: Sieben der einstigen Götter Ägyptens waren zurück! Allesamt gekleidet in weiße, golddurchwirkte Gewänder. Der Reihe nach handelte es sich um Hathor, Bastet, Isis, Maat, Amun, Horus und Seth. Die eingeblendeten Namen waren neben der Schreibweise in allen gebräuchlichen Buchstaben und Zeichen auch als Hieroglyphen zu sehen.

      Viele der weltweiten Zuschauer zogen die Augenbrauen hoch, lachten kopfschüttelnd oder spürten, wie ihnen ein Schauer über den Rücken jagte.

      Der falkenköpfige Sonnengott Horus, Schöpfer und Erhalter der Welt, kündigte eine offizielle Mitteilung an. Obgleich er eine unbekannte Sprache verwendete, die gleich einem