Ausgerechnet jetzt war mein Chef auf Dienstreise und ich wusste weder, was ich tun sollte, noch wie ihn erreichen. Die Polizei anrufen? Das wäre Massimo bestimmt nicht recht gewesen. Warum wusste ich nicht, aber er hatte ja wegen der zerbrochen Scheibe auch nur seine Versicherung verständigt. Ich befeuchtete meinen Zeigefinger mit Spucke und rieb auf dem Glas herum. Die Tünche stank fürchterlich, aber nach einer Weile verwandelte sich das Schwarze in eine braune Schmiere und begann sich aufzulösen. Es war gar keine Farbe, es war Kot – Hundekot vielleicht, oder Schweinemist. Jemand hatte Massimos Schaufenster von oben bis unten mit Mist zugekleistert. Was für eine Gemeinheit! Ich schaute mich um. Die Boutiquen auf der anderen Seite hatten noch nicht geöffnet und es waren kaum Fußgänger unterwegs. Wenn ich mich beeilte, konnte ich das Fenster in einer halben Stunde wieder einigermaßen sauber waschen. Es blieb mir nichts übrig, als mich mit einem Eimer Wasser an die Arbeit zu machen. Ich schaffte es, doch als die Scheibe wieder klar war, fühlte ich mich selbst durch und durch schmutzig. Meine Bürojeans hatte ein paar hässliche Flecken abbekommen und ich muffelte nach Schweiß und Jauche.
Ich war noch keine fünf Minuten mit meiner Säuberungsaktion fertig, als der Glaser kam und eine neue Scheibe einsetzte. Wie gut, dass der Handwerker die besudelte Scheibe nicht gesehen hatte. Bestimmt hätte er mir unliebsame Fragen gestellt, auf die ich keine Antwort gewusst hätte. Wenigstens wurde es jetzt wieder ein bisschen wärmer im Büro; doch mit jeder Stunde, die ich alleine dasaß und auf Massimo wartete, wurde es mir ungemütlicher.
Ich konnte einfach nicht mehr so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Ich musste unbedingt herausfinden, wo Massimo steckte. Doch gerade, als ich voller Tatendrang Massimos Mailbox unter die Lupe nehmen wollte, sprang mein Handy an. Tracy Chapmans raue Stimme: Matters of the heart. Wehmütig dachte ich an die Zeiten, in denen Gerson mir jede Woche einen neuen Klingelton für mein Handy heruntergeladen hatte, mit so einer Spielerei verschwendete er seine Zeit schon lange nicht mehr. Es war Iris und augenblicklich kletterte mein Stimmungsbarometer steil nach oben. Ich ließ mich wieder auf meinen Schreibtischstuhl sinken und legte die Füße auf den leeren Chefsessel.
„Tschau Vera!“
„Hey, du bist es! Was gibt es?“
„Eine gute Nachricht! Morgen bringe ich dir Nine!“
„Wunderbar! Ich freu mich! Tom hat auch schon gefragt, wann sie kommt!“, sagte ich aufgeregt.
„Moment, freu dich nicht zu früh, es gibt auch eine schlechte Nachricht! Naja“, fügte sie hinzu, „so schlecht wie es klingen mag, ist sie auch wieder nicht.“
„Oh je, bitte nicht! Sag schon, Iris.“
„Alles Paletti hat starken Husten. Wenn ich ihn mitnehme, könnte er Nine anstecken und vielleicht sogar die Pferde in eurem Stall.“
„Dann kann er nicht mitkommen?“, fragte ich überflüssigerweise.
„Es wäre besser, wenn er noch hier in der frischen Juraluft bliebe.“
Weil ich mir für meine Antwort Zeit ließ, hakte Iris nach: „Bist du einverstanden? Alles Paletti bleibt noch hier?“
Ich musste meinen Frosch im Hals verscheuchen, bevor ich antworten konnte. „Ja, ich glaube, es ist besser so“, sagte ich traurig. Eigentlich ist es Glück im Unglück, dachte ich und brachte es trotzdem nicht übers Herz, Iris zu sagen, dass ich bald nicht einmal mehr das Geld für Nine übrig haben würde.
Ich legte auf und wählte gleich darauf Toms Nummer, um ihm die frohe Botschaft von Nines Ankunft zu überbringen. Er wollte immer gleich über alles Neue in seinem Stall informiert sein, und er würde sein Bestes tun, damit sich Nine in ihrer alten Box wieder richtig zu Hause fühlte.
Vorsichtshalber schloss ich die Bürotür ab, ich wollte für eine Viertelstunde ungestört sein, um mit meinen Recherchen zu beginnen. Ich kannte das Passwort von Massimos PC und machte mich an die Arbeit.
Die meisten Sendungen im Posteingang waren Geschäftsbriefe, Rechnungen, Kundenbeurteilungen und Reisebeschreibungen – ganz normale Geschäftskorrespondenz. Ich zögerte einen Augenblick, dann öffnete ich den Ordner „Gesendet“. Dort erregte eine Nachricht ohne Betreff meine Aufmerksamkeit. Massimo hatte sich vor fünf Tagen, also kurz vor seinem Verschwinden, mit einem mir nicht bekannten Kunden verabredet. In der Mail war der Treffpunkt angegeben: „Autobahnraststelle Bruchsal.“ Ob sie von dort aus zusammen weiterfahren wollten? Diese Raststätte war unter Reitern gut bekannt. Von Heidelberg Richtung Bruchsal kommend, konnte man hinter der Tankstelle über einen Feldweg auf die Bundesstraße stoßen und die Autobahnbrücke überqueren. Man brauchte nur von der Hauptstraße links abzubiegen und kam zu „Reitsport Vordermann.“ Das Geschäft lag auf der anderen Autobahnseite Richtung Heidelberg und der Schleichweg ersparte den Umweg über die nächste Autobahnausfahrt ein paar Kilometer weiter. Massimo hatte mich früher einmal dorthin mitgenommen. Er hatte sich Maßstiefel anfertigen lassen und ich hatte mir eine superschicke Ganzlederreithose gekauft.
Aber was wollte Massimo in einem Reitsportgeschäft, er hatte doch gar kein Pferd mehr? Ich legte den Hörer, den ich schon in der Hand hielt, wieder hin. Wahrscheinlicher war, dass er seinen Bekannten auf der Raststätte getroffen hatte und mit ihm in die Schweiz oder nach Italien gefahren war; mit einem schnellen Wagen konnte man in 8 Stunden in Milano sein. Aber dann rief ich doch bei Vordermann an, ich musste irgendetwas tun und ich wollte es einfach wissen. Der Chef meldete sich persönlich. „Ich habe eine Frage – war vor drei Tagen mein Boss, Massimo Auditi vom Reisebüro Reisen der Anderen Art in Heidelberg bei Ihnen? Ein großer, dunkler Mann, so ein sympathischer Holzfällertyp?“
Im Hintergrund hörte ich jemand tuscheln, dann kam eine Frauenstimme. „Ein großer dunkler Typ, sagen Sie? Der war hier, er hat unglaublich nach Parfüm gerochen.“
„Green Orange?“
„Wie bitte? Ach so, keine Ahnung, wir sind hier keine Drogerie – ich kenne mich mit diesen Wässerchen nicht aus. Er war mit einem Geschäftsmann im grauen Anzug da, der auch nach diesem Zeug gestunken – äh, ich meine geduftet hat. Hab schon gedacht, die beiden hätten was miteinander.“
„Was wollten sie denn?“, fragte ich.
„Sie haben sich nach unserem neuen Reiseprogramm erkundigt. Wir bieten seit neuestem Wanderritte an.“
Das nennt man Werkspionage, dachte ich schmunzelnd. Massimo war ein findiger Geschäftsmann. Ich atmete tief durch. Übertriebene Sorgen brauchte ich mir nicht mehr zu machen. Massimo würde bestimmt bald wieder auftauchen und mich in meinen letzten Arbeitstagen bis über beide Ohren mit Recherchen eindecken, es ginge ja um meinen zukünftigen Arbeitsplatz, hörte ich ihn sagen. Trotzdem fühlte ich mich so erleichtert, dass mir Freudentränen in die Augen traten; doch an meiner Reaktion merkte ich, dass ich unbewusst mit dem Schlimmsten gerechnet hatte.
Glücklicherweise hatte ich heute keine Kunden beraten müssen. Der penetrante Geruch, der immer noch an mir hing, hätte sie bestimmt in die Flucht geschlagen. Ich schloss die Ladentür wieder auf, doch das hätte ich mir sparen können, denn ich blieb den ganzen Nachmittag über allein. Ich nutzte die Zeit um ein paar Erkundigungen zu machen, die mir Massimo vor ein paar Tagen aufgetragen hatte. Es ging um Wanderritte durch Norwegen, und nun verstand ich, was Massimo damit beabsichtigte. Er wollte selbst so ein Programm anbieten, wie er es bei Vordermann gesehen hatte.
Zufrieden legte ich die ausgedruckten Ergebnisse, die einen stattlichen Stapel ergaben, in die Ablage auf Massimos Schreibtisch. Wenn er zurückkäme, würden wir das Norwegenprojekt gemeinsam in Angriff nehmen und vielleicht würde ich dann meinen Job viel früher wieder bekommen, als ich zu hoffen gewagt hatte.
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„Wo steckst du eigentlich?“, fragte Tom. „Heute kommt Nine!“ Musste mich unser Stallpächter wirklich auf meinem Handy anrufen, um mir diese Botschaft zu überbringen?
„Im