Zu dieser Stunde hätten damals dort keine Zecher gesessen. Aber es schien den Leuten in Chelsea heute besserzugehen. Der Saloon war schon ziemlich besetzt.
Tom öffnete die Tür. Ein blecherner Dreiklang ertönte. Aber niemand beachtete den neuen Gast.
Der ging durch die Tischreihen zur Theke und schob sich in eine Lücke zwischen zwei Männer.
Der Wirt, ein feister Mann in den Vierzigern, stand mit hochgekrempelten Ärmeln da und spülte Gläser. Er blickte kurz auf, als er Ton bemerkte, und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.
Erst als der neue Gast seine Bestellung aufgegeben hatte: »Einen Brandy Blue!« warf Kid Walker den Kopf herum. Aus weit geöffneten Augen starrte er den Fremden an.
Dessen Gesicht war hart und verschlossen. Kein Muskel zuckte darin.
Walker wich einen halben Schritt zurück und ließ den Unterkiefer herunterfallen. Sein gelbes Pferdegebiß kam zum Vorschein.
Tom wiederholte seine Bestellung: »Einen Brandy Blue!«
Der Wirt wischte sich über den kahlen Schädel und schluckte. Dann griff er mechanisch mit der Linken nach einem Glas, zog mit der Rechten eine schlanke Flasche heran, schnipste den Korken davon und goß ein, ohne hinzusehen. Erst als seine Frau ihn anstieß, weil der Brandy bereits über die Theke rann, blickte er auf.
Ganz langsam schob er Tom das Glas zu.
Der nahm es, hob es an, blickte dem Wirt eiskalt in die Augen und kippte das beißende Getränk in die Kehle.
Ein Geldstück klimperte auf der Theke.
Tom Coogan wandte sich um und ging hinaus.
»Heh, wer war denn das?« fragte ein langer Kerl, der neben dem Fremden an der Theke gelehnt hatte.
Der Wirt blickte auf die bemalte Glastür, die sich hinter Tom geschlossen hatte. Erst als seine Frau, die blonde Kitty, ihn erneut angestoßen hatte, kam er wieder zu sich.
»Wer war der Mann?« fragte sie halblaut.
Kid zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht…, ein Gespenst…«
*
Das »Gespenst« ging unterdes auf die Straße, bestieg seinen Braunen und ritt weiter.
»Grand Hotel«. Da stand es breit und weithin sichtbar auf der weißgetünchten Fassade eines neuen Gebäudes.
Tom band sein Tier an den Zügelholm und betrat das Hotel. Ein weißhaariger Mann mit bernsteinfarbenen gutmütigen Augen kam ihm in der Halle entgegen.
Tom blieb vor ihm stehen. »Evening, Mister. Kann ich ein Zimmer haben?«
Der alte Herr nickte. »Natürlich.« Er winkte dem Graukopf hinter der Rezeption zu und sagte zu Tom: »Tragen Sie sich bitte drüben ein.«
Der Ankömmling schrieb seinen Namen in das dickleibige Gästebuch und nahm den Schlüssel, den ihm der grauhaarige Mann an der Rezeption vom Bord reichte.
»Zimmer sieben, Mister!«
Tom nickte und rief dem Mann zu: »Denken Sie an mein Pferd!«
»Keine Sorge, Mister. Es wird bestens versorgt.«
In dem kleinen grünschwarz tapezierten Zimmer auf dem ersten Stock ließ der Reiter sich auf einen der Stühle fallen, streckte die Beine weit von sich und senkte den Kopf müde auf die Brust.
Jetzt war er also in Chelsea.
Da, wohin er eigentlich gehörte. Und von wo sie ihn vor einem ganzen Jahrzehnt vertrieben hatten, weil er des Mordes beschuldigt worden war.
Des Mordes an Jonny Ray.
Tom schloß die Augen und sah einen flachsblonden frischen Burschen von zwanzig Jahren vor sich. Mit blauen Augen und breiter, untersetzter Gestalt, Jonny Ray.
Wie oft hatte er sich das Bild des Toten in den vergangenen zehn Jahren vor Augen gerufen! Wie oft hatte er noch im Schlaf seine helle Stimme gehört!
Jonny Ray war tot. Seit zehn Jahren lag er unten weit vor der Stadt Wichita in seinem stillen Grab unter einem kleinen Hügel am Ufer des Arkansas.
Sie waren immer zu viert gewesen, damals. Jack Donegan, Kid Walker, Jonny Ray und er. Vier Freunde, die sich auf dem großen Treck zusammengefunden hatten. Sie hatten zusammen gejagt, gegessen, getrunken und gelacht; ganze Nächte hatten sie am Spieltisch miteinander verbracht. In eiserner Freundschaft. Das Vierkleeblatt wurden sie genannt. Und wer sich mit ihnen anlegte, der hatte nichts zu lachen. Sie waren damals mit einem Trupp vom Arkansas hinauf bis zum Eldorado gezogen.
In jenen Tagen hatten ein paar Leute, denen es in Eldorado nicht behagte, zehn Meilen weiter nordöstlich auf die Berge zu eine neue Stadt aufgebaut.
Chelesa.
Jack Donegan, Kid Walker, Jonny Ray und Tom Coogan waren mitgezogen und hatten sich jeder ein hübsches Haus in der neuen Stadt gebaut.
Jonny arbeitete in der Schmiede des alten Duff Vaugham; Kid half im Saloon von Nat Cummings, und Jack arbeitete mit Tom zusammen auf der Ranch des greisen Peter Loon, vier Meilen hinter der Stadt.
Dann war der Tag gekommen, der die Freundschaft der vier mit einem Schlage zerschmetterte. Einer von ihnen war zum Mörder geworden.
Richter Gennan war in die Stadt gezogen. Mit ihm seine sechzehnjährige Tochter Mabel.
Mabel Gennan war bildhübsch, zu
hübsch für Chelsea. Der Blick ihrer tiefbraunen Augen hatte eine verheerende Wirkung auf die jungen Männer der Stadt. Schon nach wenigen Tagen begannen sich die Bewerber um ihre Gunst zu streiten. Und schon nach einer Woche stand soviel fest, daß es nur einem Mann des Kleeblatts gelingen würde, Mabel für sich zu gewinnen. Seit der lange Potter sich in Cummings Saloon gerühmt hatte, er werde Mabel bekommen, und seit Tom Coogan ihn eines anderen belehrt hatte, seitdem Lat Hennings, Wynn Pingleroad und Ben Hunter sich gegen Tom stellten und sich plötzlich Jonny Ray, Jack Donegan und Kid Walker gegenübersahen – seit jener Stunde stand fest, daß Mabel nur einem Mann vom Kleeblatt zufallen konnte.
Aber wem?
Das war das große Rätsel.
Und die vier wußten es selber nicht.
Das schlimmste war, daß das stille Beobachten, das gegenseitige Belauern nicht nur rasend schnell die alte Freundschaft zerfraß – die Männer begannen einander auch zu hassen.
Vor allem seit jener Stunde, da sie merkten, daß sie alle vier um Mabel kämpften.
Merkwürdigerweise war niemand auf den Gedanken gekommen, Mabel selbst entscheiden zu lassen. Vielleicht hätte sie ja überhaupt keinen von ihnen gewollt. Schließlich war es ja ihre Sache gewesen.
Aber auf diesen Gedanken kamen die vier Männer nicht. Sie würden es unter sich ausmachen.
Und das Mädchen wußte nichts von dem heimlichen Kampf, der da um sie entbrannt war.
Der alte Rancher Loon machte der Geschichte ein vorläufiges Ende, indem er Tom und Jack dazu bestimmte, mit vier weiteren Cowboys nach dem Süden zu ziehen, um eine Herde aus New Mexico heraufzuholen.
Als Jonny Ray davon hörte, band er seine Schürze ab und sagte dem verdutzten Schmied, daß er in etwa einem Monat wiederkommen würde. Er ritt auf die Ranch und bat Loon, mitreiten zu dürfen.
Er ritt mit. Er wollte nicht in der Stadt bleiben, wenn die anderen beiden weg mußten.
Und noch einer ritt mit: Kid Walker. Als er hörte, daß die drei auf den Trail zogen, meldete er sich dazu.
Der alte Loon fand, daß er die anderen vier Cowboys, die er für den Trail bestimmt hatte, auf der Ranch lassen konnte, wenn die vier tüchtigen Männer zusammen waren.
Und so geschah es.
Es war im Frühjahr.
An einem