Kapitel 1 | Die Geschichte von Sebastian und Sheba
Bevor er seinen neuen Namen annahm, bevor die Tiere aufbegehrten und ihre Unterdrücker stürzten, bevor von Prophezeiungen und Erlösern gesprochen wurde, war der große Krieger Mort(e) nur eine Hauskatze gewesen, die seine menschlichen Herren Sebastian nannten. An jene Zeit erinnerte er sich nur mehr in Träumen und zufälligen Momenten der Nostalgie, die so schnell vergingen, wie sie kamen. Mit Ausnahme von Sheba. Ihrer zu gedenken, schmerzte stets wie ein Splitter unter dem Nagel.
Sebastians Mutter, eine namenlose Streunerin, gebar ihren Wurf auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks. Wenn Mort(e) sich anstrengte, flackerten Momente aus diesen Tagen auf, als er mit seinem Bruder und seiner Schwester gesäugt wurde. Er spürte die Wärme ihres Fells, die raue Zunge, hörte ihr Schnurren, vernahm den Geruch und den feuchten Atem seiner Geschwister, wenn sie über ihn kletterten. Woran er sich nicht mehr erinnern konnte, waren die Umstände, die ihn von seiner Familie trennten. Es gab keine Aufzeichnungen, die er hätte abrufen können. Er vermochte sich nur vorzustellen, wie der Besitzer des Wagens, wohl ein Freund der Martinis, die ihn schließlich aufnahmen, den ärmlichen Wurf entdeckte, als er das Fahrzeug eines Morgens belud. Sebastians Mutter hatte wahrscheinlich gefaucht und gekratzt, als die Menschen ihre Jungen wegnahmen, war aber letzten Endes sicher dankbar gewesen, von ihnen befreit zu sein. Der Instinkt erzählte ihr bestimmt, dass sie ihre evolutionäre Rolle erfüllt hatte und jung genug für weiteren Nachwuchs war.
Von diesem Morgen an verging ein Tag wie jeder andere für klein Sebastian. Janet und Daniel Martini waren damals ein junges Paar gewesen. Die frisch Vermählten verbrachten ihr erstes gemeinsames Jahr mit der Renovierung ihres Hauses für die geplanten Kinder. Weitestgehend sich selbst überlassen, glaubte Sebastian, ihm gehörte dieser Ort. Er schlich zwischen Sparren und durch neu gezogene Decken und Wände. Als Arbeiter die Aussparungen dichtmachten, verscheuchten sie ihn von seinen Lieblingsverstecken.
Im fertigen Wohnzimmer entspannte er gewöhnlich im Sonnenlicht auf dem Teppich, dämmerte vor sich hin und beobachtete die schwebenden Staubflocken ringsumher. Tagsüber, wenn die Martinis arbeiteten, war es still im Haus. Abends suchte Sebastian seine Herren am Esstisch auf und reckte manchmal seine Pfoten nach Daniels Schoß. Der Mann trug Jeans, die nach den chemischen Reinigungsmitteln, Metallen und Farben seiner Druckerei roch. Die künstlichen Gerüche brannten in seiner Nase, wenn er zu tief einatmete. Daniel führte ihn dann zur Kellertreppe, wo Wasser und Futter neben seinem Katzenklo standen.
Sebastian dachte selten an seine Geschwister und seine Mutter, bis eines Morgens eine Streunerfamilie durch den Vorgarten marschierte. Die Mutter führte zwei Junge, die hinter ihr herhopsten. Spürend, dass sie beobachtet wurde, hielt sie an und hob den Schwanz. Sie schaute zu Sebastian, der seine Pfoten am Fenstersims aufstützte, und fauchte. Er tat es ihr gleich, ahmte sie nach. Dann streckte sie ein Bein und drei scharfe Krallen traten an den Zehenspitzen hervor. Sebastian schreckte zurück. Sie trottete zufrieden weiter. Die Jungen beäugten ihn ein letztes Mal, bevor sie ihr folgten.
Plötzlich ertönte Gebell und sie hasteten aus seinem Sichtfeld. Es stammte von Hank, einem braunen Köter auf dem gegenüberliegenden Grundstück. Er schien kein anderes Ziel im Leben zu haben, als bis zur Heiserkeit zu bellen, während ihn seine straff gespannte, rote Nylonleine festhielt. Oft konzentrierte er seinen Ärger auf Sebastian, der am Fenster schlief, wenn er das kühle Glas an seiner Seite spüren wollte. An diesem Tag ließ er Hank eine Weile kläffen, ehe er von der Scheibe wegging. Es war ein Akt der Gnade.
Sebastian blickte auf seine Pfoten und bemerkte erstmals, dass sie kürzer waren als die anderer Katzen. Die Krallen wurden gestutzt. Das schien unmöglich, da er sich an ein solches Ereignis erinnern müsste. Trotzdem führte ihn die Beobachtung zu der Erkenntnis, dass es vermutlich viele Ereignisse in seiner Vergangenheit gab, die er vergessen hatte, während er in diesem Haus vor sich hinlebte und seine Zeit mit Schlafen verbrachte. Darüber hinaus existierten Katzen und andere Kreaturen jenseits der Mauern, zu denen er einst gehörte. Nun war er hier, getrennt von seinesgleichen. Er wusste, dass es keinen Ausweg gab, obwohl er nie nach einem gesucht hatte.
Es mochte erschreckend sein, aber der Moment trieb fort wie die meisten seiner Erinnerungen. Es gab Wärme und Essen an diesem Ort, Wunder und Ablenkungen. Ein neuer Plüschteppich im Wohnzimmer war weicher als das Bauchfell seiner Mutter, und ein protziger Spiegel, der beinahe die gesamte Wand einnahm, beschäftigte ihn seit Wochen. Darin erblickte er nicht nur ein anderes Zimmer, sondern auch eine andere Katze! Sie besaß ein weißes Kinn und einen orangefarbenen Streifen, der sich von der Stirn über das Rückgrat bis hin zum Schwanz zog. Zwar hatte Sebastian erleichtert festgestellt, dass der Fremde nur eine Illusion war, aber er musste sich diese Tatsache jedes Mal ins Gedächtnis rufen, wenn er am Spiegel vorbeiging.
Er widmete ganze Tage dem neuen Fernsehgerät mit seinem flimmernden Bildschirm, endlos gewundenen Kabeln und surrenden Schaltkreisen. Ließen die Martinis die Dachbodentür offen, konnte Sebastian ein neues Reich voller Spielsachen, Kartons und Weihnachtsdekoration erobern. Seine erste Expedition dauerte von einem Sonnenuntergang zum nächsten. Durch das Fenster konnte er graue Dächer, grüne Rasen, im Regen glänzende Straßen und einen unaufhörlichen Strom Autos entlang des Horizonts erkennen, dem Rand seiner Welt.
Eines Tages brachte Janet Nachwuchs mit ins Haus. Ein paar Tage später hob Daniel ihn hoch, was er sonst nie tat, und trug ihn in sein Schlafzimmer, in dem ein kleiner Junge auf einem Tuch auf der Matratze lag. Er sprach leise zu seinem Kater und wiegte ihn sanft, bevor er ihn aufs Bett setzte. Sebastian beschnupperte die weiche, reine Haut des Babys. Es gluckste und ruderte mit den Ärmchen. Daniel ließ ihn lange dort sitzen.
Sebastian mochte das Kind mit dem Namen Michael. Und er freute sich, als ihm rund ein Jahr später ein weiteres vorgestellt wurde, ein Mädchen namens Delia. Das war seine Familie und er gehörte zu ihr. Dies war sein Zuhause, hier war er sicher. Es gab kein anderes Leben. Und das musste es auch nicht.
Für viele Tiere begannen sich die Dinge zu ändern, sobald sie dem Hormon ausgesetzt waren. Für Sebastian begann die wahre Veränderung, als Janet anfing, mit einem Mann aus der direkten Nachbarschaft zu schlafen.
Er tauchte eines Tages wie aus dem Nichts in der Einfahrt der Martinis auf. Janet plauderte mit ihm, während die Kinder oben schliefen. Sebastian beobachtete sie vom Fenster aus. Der Nachbar war groß, hatte langes Haar, das hinter seinen Ohren klemmte, und eine Brille mit runden Gläsern, die das Licht in kurzen Blitzen reflektierte. Neben seinen Knien zappelte eine Hündin mit braunen Augen, weißem Fell und einem orangenen Fleck von der Hüfte bis zu den Schultern. Geheimnisvoll und fremdartig, ein Wesen aus einer anderen Welt. Gelegentlich gab der Mann ihrem Halsband einen Ruck, damit sie stillhielt.
Sebastian war überzeugt, dass sie Janet gleich anfiel. Er scharrte an der Scheibe, um sie zu warnen. Wären seine Krallen so scharf wie die der Streunerin, hätte sie sein Kratzen gehört. Als der Nachbar der Hündin einen Klaps gegen die Seite gab, setzte sie sich und blieb ruhig. Dieses Tier gehörte eindeutig dem Mann und stellte keine Bedrohung dar. Dass er Gewalt anwendete, um es zu bändigen, überraschte Sebastian. Er selbst wurde, soweit er wusste, nur einmal diszipliniert, als er auf dem Fernsehsessel hockte. Janet hatte ihn schon so oft heruntergescheucht, dass er glaubte, das Möbelstück stünde mit der Frau in Verbindung und könnte sie augenblicklich rufen.
Erst als sich der Nachbar verabschiedete, bemerkte die Hündin Sebastian. Sie neigte den Kopf und versuchte herauszufinden, was dieses kleine Wesen war. Der Mann zog wieder an ihrem Halsband. Und sie ging mit ihm fort.
Sie hieß Sheba. Ein paar Sonnenaufgänge später führten sie und der Mann ein merkwürdiges Ritual im Garten durch. Er warf einen grün fluoreszierenden Ball, den sie wieder und wieder jagte und zurückbrachte. Die beiden wirkten dabei so zufrieden, dass sich Sebastian erneut fragte, ob sie den Mann irgendwie befehligte. Aber dann wedelte er mit etwas Futter, bis sie sich setzte und darauf