»Wir sind an den Frontlinien des Ausbruchs. Wir müssen wissen, was das Virus bewirken kann. Ich erwarte alle sechs Stunden Bericht über seinen Zustand.«
»Glauben Sie, da draußen sind Menschen?«, fragte Luna.
»Ich hoffe es«, sagte er und ging Richtung Gebäude. »Ich hatte seit einer Weile keine anständige Mahlzeit mehr.«
»Sir, darf ich fragen, wohin Sie gehen?«
»Wenn es wirklich so ruhig gewesen ist, wie du sagst, würde ich gern etwas schlafen.«
»Jawohl, Sir.«
Die Mitglieder der Red Sphinx warteten am Fuß des Mastes.
»Wir können dich nicht füttern, solange du da oben bist, weißt du?«, rief Luna.
»Ich habe euch nicht darum gebeten.«
Genervt ging sie zum steinernen Bauwerk zurück. Die anderen marschierten mit Tiberius als Nachhut hinterher. Er warf einen letzten Blick auf Sebastian, bevor er durch den Eingang verschwand.
Die nächsten zwölf Stunden ruckte Sebastian den Mast vor und zurück; anfangs aus schierer Langeweile und Frustration. Von der Spitze aus konnte er ihn dank der Hebelwirkung ein paar Zentimeter verlagern. Er sah dabei das Dach des Gebäudes in seinem Sichtfeld auf- und niedersinken, zusammen mit den gelb-grünen Augen der Katzen. Ab und an ließ sich Culdesac bei ihnen blicken. Zuweilen stand Luna neben ihm. Als sie simultan die Arme verschränkten, verbuchte Sebastian dies als kleinen Sieg.
Wie bestellt kam Tiberius mit Essen herbei. »Komm schon, hör auf.«
Er fuhr mit dem Gerucke am Mast fort, der sich stetig mehr bewegte.
»Sie reden darüber, dich zu erschießen. Luna glaubt wirklich, du hättest den Verstand verloren. EMSAH-Spätstadium.«
Sebastian reagierte nicht darauf.
»Culdesac weist sie zurück. Es ist gut, dass der Boss rechtzeitig gekommen ist. Luna hätte mich dich töten lassen. Damit hätte ich mir wahrscheinlich meinen Namen verdient, aber es hätte mir nicht gefallen.«
Er zog das Tempo an, ächzte beim Verlagern seines Gewichts.
»Ich kann dir nicht versprechen, dass das Essen in einer Stunde noch hier stehen wird. Alle fragen sich, warum wir dir überhaupt etwas geben.«
Tiberius wartete eine ganze Minute auf Antwort, während er das untere Ende des Mastes untersuchte. Offenbar zufrieden, dass Sebastian keine nennenswerten Fortschritte machte, bat er, ihn zu rufen, wenn er zum Essen bereit war. Dann ging er.
Mit jedem Einatmen drückte Sebastian seinen Körper gegen das unnachgiebige Holz. Er kippte nach hinten und sah die starren Wolken am blauen Himmel, die sich nach Osten ausstreckten. Dann stieß er sich beim Ausatmen mit der Brust nach vorn. Die Fesseln gruben sich in Fleisch und Fell. Er neigte den Mast so weit, dass er auf den Asphalt und den Teller mit Essen auf dem Gehweg schauen konnte. Bei dem Anblick krümmte sich sein leerer Magen.
Dann hörte und fühlte er es: einen leichten Knack, ähnlich dem von Daniels Fingerknöcheln am Esstisch. Dieses eine Geräusch vibrierte durch seine Wirbelsäule und befreite ihn von seinem Hunger. Er bewegte sich nun schneller, wiegte seinen Körper hin und her statt nach vorn und hinten. Das brachte den Mast dazu, in einem immer größeren Kreis zu schwingen. Es knackte, manchmal folgte ein dumpfes Ächzen, als das Holz allmählich nachgab.
Alle Katzen schauten jetzt zu. Die Hände des Luchses ruhten an seinen Hüften.
Durch die Rotation erbrach sich Sebastian auf seinem Fell. Ein Faden Speichel und Galle hing von seinem Maul und den Schnurrhaaren. Dennoch blieben seine Augen auf die Red Sphinx fixiert. Sie würden ihn nicht aufhalten, Sheba zu finden.
Die Sonne ging langsam unter. Die golden-violette Welt schwankte weiter von einer Seite zur anderen.
Es war mitten in der Nacht, als Sebastian einen hellroten Punkt bemerkte, der an der seitlichen Wand des Gebäudes tanzte wie ein glühender Rubin. Er kam von irgendeiner Lichtquelle. Sebastian folgte dem Strahl, bis er den Menschen wieder sichtete, der auf einem nahegelegenen Dach hockte. Diesmal befand er sich auf dem des Krankenhauses weiter die Straße runter. Der Mann stand hinter einem Dreibein, das ein Gerät aufstützte, mit dem er den Punkt konzentrierte. Hätte es Nebel gegeben, wäre das rote Licht bemerkt worden. Nur Sebastian war in der Lage, es zu sehen.
Er stellte sich den Mann als seinen ehemaligen Herrn vor, der irgendwie noch lebendig war und diese fremdartige Technologie nutzte, um im Schutz der Nacht Rache zu üben.
Mit neuer Kraft fuhr Sebastian fort, bis seine Handgelenke und Schultern von der Reibung brannten. Die Kabel wellten sich bei jeder Bewegung. Er war so vertieft, dass er zunächst die Versammlung einiger Katzen unter ihm nicht bemerkte. Alle trugen Waffen. Luna und Culdesac standen vorn. Sebastian machte weiter.
Jede Bewegung könnte dieses Ding durchbrechen, dachte er. Vielleicht gelang es ihm dann, sich davonzustehlen.
»Mach es nicht noch schwerer, als es sein muss«, rief Culdesac. »Wir wollen nur reden, herausfinden, was mit dir nicht stimmt.«
»Ich bin an einen Mast gefesselt«, entgegnete er. »Das stimmt nicht.«
»Komm schon runter.«
Sebastian suchte die Dächer nach dem Menschen ab. Das Dreibein mit dem Gerät stand noch da. Der Mann musste sich versteckt haben. »Ich sehe …«
»Siehst was?«
»Ich sehe einen Menschen.«
»Captain«, sagte Luna.
»Wo?«, fragte Culdesac.
»Er beobachtet uns.«
Das Holz krachte, laut genug, um ein paar der Katzen zusammenzucken zu lassen. In dem Moment konnte Sebastian Tiberius ausmachen, der hinter den anderen stand.
»Captain, wir können das nicht länger dulden. Ich bitte Sie …«
Culdesacs Pfote schnellte hervor, packte ihre Schnauze und hielt sie zu. »Halt den Mund. Horch.«
Die Katzen wirkten nervös. Einen Augenblick später fand Sebastian heraus warum. Da war ein summendes Geräusch in der Ferne, das lauter wurde und von den Gebäuden hallte. Etwas näherte sich durch die Luft.
»Der Mensch richtet ein Licht auf dein Hauptquartier, Captain«, rief Sebastian. »Siehst du es?«
Culdesac ließ Luna los und blickte zum Gebäude. Plötzlich versteifte sein ganzer Körper, sein Schwanz stand aufrecht. »Sergeant!«, brüllte er. »Sergeant!«
Eine Katze spähte vom seitlichen Dach.
»Schaffen Sie sofort Ihre Leute da raus! Beschuss!«
Er und seine Kameraden rannten zur Treppe. Inzwischen warteten die Umstehenden auf Culdesacs nächsten Befehl.
»Bewegung! Geht hinter dem Gebäude in Deckung!«
»Beschuss!«, rief jemand. Mehrere andere wiederholten es.
»Los!«
»Lauft!«
»Lass ihn, verschwinden wir!«
Der Luchs schaute zu Sebastian rauf. »Tut mir leid«, sagte er und rannte mit den anderen weg.
Das Summen wurde lauter, wuchs zu einem Dröhnen, einem Gewitter.
Sebastian ruckte den Mast nach vorn. Dann kehrte sich der Schwung um. Er legte seine ganze Kraft hinein, ließ einen Schrei los und stemmte seine Schultern gegen das Holz. Der Himmel rollte durch sein Sichtfeld, bevor er am Horizont hinter ihm endete, als sich der Mast so weit wie möglich bog. Er blieb dort, das Holz splitterte. Schließlich brach er markerschütternd, knackte, knarzte und ächzte, bis Sebastian spürte, dass er sich im freien Fall befand. Die Kabel rissen an der Spitze ab und schnappten mit einem lauten Geräusch nach oben. Er landete auf dem Rücken und spürte beim