Martin lief nun durchs Zimmer und redete sich ein, dass er sicher schon immer in der Lage gewesen war, auf den Kühlschrank zu blicken. Ihm wurde es jetzt nur deshalb bewusst, weil es dort extrem staubig war. Genug davon, dachte er und ging zum Schlafzimmerschrank, um seinen Werkzeugkasten zu durchwühlen. Als er aus dem Haus seiner Eltern ausgezogen war, hatte sich Onkel Ray angeboten, den gemieteten Lastwagen zu fahren. Ray hatte im klimatisierten Führerhaus gesessen und von seinem bequemen Sitz aus beobachtet, wie Martin und seine Freunde die Sachen einluden. Dann hatte Ray bemerkt, dass Martin gar keinen Werkzeugkasten besaß, und ihn darauf angesprochen, doch Martin hatte erwidert: »Bisher brauchte ich keine Werkzeuge, weil ich bei Dad gelebt habe. Während du hier herumsitzt und zuschaust, lässt du einfach den Motor laufen und die Klimaanlage ist eingeschaltet. Das kostet mich ein Vermögen an Benzin. Hast du das mal bedacht?«
Onkel Ray hatte entgegnet, dass er das sehr wohl bedacht hätte, es ihn aber nicht störte.
Später hatte Onkel Ray ihm eine Werkzeugkiste als Einweihungsgeschenk für die neue Wohnung überreicht, die recht ordentlich ausgestattet war, und Martin hatte gemeint: »Danke! Aber … äh … ist dir aufgefallen, dass die Werkzeugkiste pink ist und mit glitzernden Buchstaben Mein erster Werkzeugkasten draufsteht?«
Onkel Ray hatte entgegnet, dass ihm das aufgefallen wäre, es ihn aber nicht weiter störte. Der gute, alte Onkel Ray. Dieser Kerl war wirklich nicht aus der Fassung zu bringen.
Martin kehrte nun mit einem pinkfarbenen Maßband und einem winzigen, pinkfarbenen Zimmermannswinkel zurück. Er schnappte sich einen Bleistift und stellte sich mit dem Rücken an den Türrahmen des Schlafzimmers. Dort legte er sich den Zimmermannswinkel auf seinen Kopf und machte behutsam einen Strich an der Stelle, wo der Winkel auf die Wand traf. Martin schmunzelte über sich selbst, weil er seine Zeit mit so etwas Bescheuertem verschwendete, während er das Maßband an der Wand bis zur Markierung hochzog. Er beugte sich nach vorne, um die Zahlen auf dem Maßband abzulesen.
Der Strich, den er gemacht hatte, lag nur ein klein wenig über einem Meter achtundachtzig. Er wiederholte den Vorgang und kam zu demselben Ergebnis.
Offensichtlich bin ich im Laufe der letzten Jahre nach und nach etwa sieben Zentimeter gewachsen und habe es erst jetzt bemerkt. Und zwar direkt, nachdem ich meine Größe in einer seltsamen Textdatei geändert habe, die ich online gefunden habe. Das ist alles vollkommen normal, dachte er.
Während er weiter nachdachte, saß Martin an seinem Computer und sah sich die Datei genauer an. Er wollte nun einfach mal ein paar Dinge ändern, um sich selbst zu zeigen, wie lächerlich er sich benahm, aber gleichzeitig wollte er die Datei am liebsten auch schließen und so tun, als hätte er sie niemals gefunden. Darum saß er eine Zeit lang einfach nur da. Nach etwa zwanzig Minuten beschloss er, dass er sich ein für alle Mal beweisen musste, wie albern er sich verhielt. Der Cursor war immer noch an der gleichen Stelle wie zuvor. Nämlich bei der Größenangabe. Martin änderte die 1,87 nun in 1,85 m um.
Dann ging er wieder zur Schlafzimmertür und stellte sich gerade mit dem Rücken an den Türrahmen. Den Zimmermannswinkel legte er vorsichtig auf seinen Kopf und markierte die Höhe am Türrahmen erneut mit dem Bleistift, dann legte Martin das Maßband sorgfältig an und zog es bis zur Markierung aus. Dabei achtete er darauf, dass es wirklich gerade und senkrecht ausgerichtet war. Schließlich nahm er mit großem Interesse zur Kenntnis, dass seine Größe nun 1,85 m betrug.
Martin wiederholte das Ganze fünf Mal. Er hätte es auch noch ein sechstes Mal versucht, wenn seine Hände nicht so sehr gezittert hätten, dass er keinen ordentlichen Strich mehr ziehen konnte.
Eine Stunde lang saß er da und starrte irritiert auf den Fernseher. Er hatte keine Ahnung, was gerade lief und es war ihm ehrlich gesagt auch vollkommen egal. Er ging zu dem Computer zurück, änderte seine Größe wieder in 1,80 m, dann schloss er die Datei. Er ging ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
Im Spiegelschrank konnte er sich selbst nun wieder in die Augen sehen.
Er beschloss, ins Bett zu gehen. Nicht zum Schlafen. Einfach nur ins Bett. Jedes Licht im Apartment war noch an und er trug auch noch seine Kleidung. Er lag einfach nur da und dachte darüber nach, welche Konsequenzen das, was gerade passiert war, wohl hatte, und das war der Moment, in dem er den Schrecken verspürte. Jeder, der bei Science-Fiction Dingen und auch in Naturwissenschaften aufgepasst hatte, stieß irgendwann auf das Konzept, dass die Realität, wie wir sie kannten, ein Computerprogramm war. Die Menschen waren lediglich Unterprogramme. Sie waren keine biologischen Organismen, die sich an eine Felskugel klammerten, die um einen Feuerball umgeben von einem Meer aus Nichts herumraste, sondern sie waren simulierte Organismen, die an einem virtuellen Felsbrocken hingen, der sich in einem unergründlichen Programm befand, das ein Spiel, eine Wettersimulation oder sogar ein Bildschirmschoner sein konnte.
Nein, kein Bildschirmschoner, dachte Martin. Eine Gesellschaft, die fortgeschritten genug war, um ein solch anspruchsvolles Programm hervorzubringen, hätte längst einen Monitor entwickelt, in den sich keine Pixel mehr einbrannten.
Sobald sich sein psychischer Zustand etwas beruhigt hatte und der Schrecken einer schweren Erregung gewichen war, erkannte Martin die Ironie der ganzen Situation. Seit Anbeginn der dokumentierten Zeit hatte man über das Wesen des Daseins diskutiert. Die größten Denker hatten ihr gesamtes Leben damit verbracht, sich mit den Grundfragen des Lebens herumzuschlagen. Selbst ganz einfache Entdeckungen wie das Rad und die Hebelgesetze hatten die menschliche Existenz tief greifend verändert.
Jetzt hatte Martin den Beweis dafür gefunden, was genau wir wirklich waren, und er hatte die Mittel, um Dinge ohne größere Anstrengung sofort zu ändern. Er war durch eine zufällige Entdeckung zur wichtigsten Figur der Menschheitsgeschichte geworden, und er wünschte sich verzweifelt, dass er all dies wieder rückgängig machen könnte.
Martin schaute auf die Uhr. Es war mittlerweile drei Uhr morgens. Er hatte sechs Stunden einfach nur dagelegen, an die Decke gestarrt und so die Panik etwas gelindert. Er stand wieder auf und schluckte zwei Schlaftabletten mit einem doppelten Bourbon herunter, dann schaltete er überall das Licht aus und verlor schließlich das Bewusstsein.
Kapitel 2
Der Wecker klingelte um sieben. Martin spürte noch immer die Wirkung der Pillen, die er eingenommen hatte. Obwohl seine Augen offen waren und sein Körper sich bewegte, konnte er nicht klar denken.
Er duschte, putzte sich die Zähne und rasierte sich.
Normalerweise würde sein Verstand nun langsam erwachen, aber Martin zog es vor, nicht zu denken.
Während er durch sein Apartment lief, war sein Blick auf die zittrigen Bleistiftmarkierungen am Türrahmen des Schlafzimmers gerichtet. Für einen Moment starrte er vor sich hin und verzog das Gesicht, dann schaltete er seinen Verstand wieder ab. Er kochte sich Kaffee und steckte Waffeln in den Toaster. Während er aß, starrte er seinen Computer an. An diesem Morgen las er die Nachrichten lieber auf seinem Smartphone. Das fühlte sich sicherer an.
Er fuhr mit seinem Kombi zur Arbeit. Als er das Firmengebäude erreichte, konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er überhaupt hergefahren war. Er saß an seinem Arbeitsplatz und ging Papierkram durch. Als er Feierabend hatte, stellte er fest, dass er sich an fast gar nichts, was an diesem Tag passiert war, erinnern konnte. Wie betäubt hatte er den Tag durchlebt. Er ging zum Parkplatz, setzte sich in sein Auto und betrachtete sich selbst im Rückspiegel. So konnte es nicht weitergehen. Darum beschloss er an Ort und Stelle, dass er den Rest seines Lebens damit verbringen würde, die Existenz dieser Datei zu leugnen.
So schnell er konnte, fuhr er nach Hause und schaltete sofort seinen Computer ein. Dann öffnete er