»Na, dann wird’s ja wohl kein Problem sein, daß wir die Tour zusammen machen«, meinte Sebastian.
Axel sank in sich zusammen.
»Vielleicht doch, Hochwürden«, antwortete er. »Ich liebe Lucie nämlich…«
Der Geistliche zuckte zusammen.
»Und sie weiß nix davon?«
Der Lehrer schüttelte den Kopf.
»Ganz im Gegenteil – sie kann mich nicht ausstehen.«
»Ach, du lieber Himmel«, rief Sebastian halb entsetzt, halb amüsiert. »Na, das kann ja was werden!«
Womit er Recht behalten sollte…
*
Es war beinahe noch dunkel, als Sebastian Trenker und Axel Kremer das Pfarrhaus verließen. Sophie Tappert hatte für den jungen Lehrer und den Geistlichen ein paar belegte Brote hergerichtet, dazu tranken sie eine Tasse Kaffee. Richtig gefrühstückt wurde erst, wenn sie schon einen beträchtlichen Teil der Tour zurückgelegt hatten.
Die beiden Männer trugen ihre wetterfesten Jacken und die Hüte auf dem Kopf. Von früheren Touren her wußte Axel, daß es um diese Zeit noch recht kalt in den Bergen war.
Später konnten sie sich der Jacken getrost entledigen, lediglich die Hüte dienten dann noch zum Schutz gegen die Sonne.
Der Gast des Bergpfarrers hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Immer wieder malte er sich aus, wie es sein würde, wenn Lucie und er sich gegenüberstehen würden. Und er hatte sogar ein wenig Angst vor dieser Begegnung, wie er sich eingestand.
Sebastian ahnte, was in Axel vorging, und nickte ihm aufmunternd zu.
»Sie wird schon net beißen«, meinte er lächelnd.
Sie hatten die Straße überquert und gingen am Hotel vorbei. Hier, wo wohl überall im Dorf, schliefen die meisten Menschen noch. Nur wer, wie der Geistliche, eine Bergtour geplant hatte, würde früh aufgestanden sein; und die Leute auf den umliegenden Höfen, deren Tagwerk zu dieser Stunde begann.
Die beiden Männer bogen gerade um die Ecke, als Lucie und Jenny aus der Tür der Pension traten. Sie winkten, als sie Sebastian und seinen Begleiter sahen. Lucie wollte gerade zu einer Begrüßung ansetzen, als sie in der Bewegung erstarrte.
»Das gibt’s doch gar nicht!« entfuhr es ihr.
Jenny stutzte.
»Was gibt es nicht!« fragte sie.
Ihre Freundin konnte indes nicht antworten, denn die Männer waren herangekommen, und Pfarrer Trenker richtete das Wort an sie.
»Guten Morgen! Na, seid ihr ausgeschlafen?«
Lucie nickte automatisch, und Jenny sah den jungen Mann forschend an. Dann schaute sie wieder zu ihrer Freundin.
Lucies Reaktion war eindeutig gewesen, die beiden mußten sich kennen!
Sollte das etwa Harald Stern sein, den sie nur vom Hörensagen kannte?
Im selben Moment wandte sich der Geistliche an sie.
»Darf ich vorstellen, das ist Axel Kremer«, machte er sie miteinander bekannt. »Jenny Sommer.«
Dann deutete er auf die dunkelhaarige Lehrerin.
»Ihr zwei kennt euch ja schon.«
Jenny riß die Augen auf.
Also doch nicht der ›Morgenstern‹, aber woher kannte Lucie diesen fabelhaft aussehenden Mann?
»Die beiden arbeiten an derselben Schule«, erklärte der Bergpfarrer. »Und zufällig machen beide hier Urlaub.«
Axel hatte Jenny die Hand geschüttelt, jetzt reichte er sie Lucie.
»Guten Morgen, Frau Berg«, sagte er unsicher.
Lucie ergriff die Hand zögernd und erwiderte murmelnd den Gruß.
»Was hör’ ich da?« rief Sebastian kopfschüttelnd. »Herr Kremer, Frau Berg? Mag ja sein, daß ihr euch in der Schule immer noch siezt, aber jetzt seid ihr Bergkameraden, und die duzen sich nun mal.«
Jenny ahnte inzwischen, was in der Freundin vorging. Von diesem Axel Kremer hatte sie ja schon genug erfahren und wußte, daß er, nach Lucies Worten, ein eingebildeter Kerl war. Allerdings kam sie nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn der Seelsorger gab das Zeichen zum Aufbruch.
»Wenn wir die Kandereralm bis zum Mittag erreichen wollen, dann müssen wir jetzt los«, sagte er und schritt voran.
Axel nickte den beiden Frauen zu und folgte Pfarrer Trenker. Lucie und Jenny sahen sich kurz an, dann zuckten sie die Schultern und schlossen sich an.
»Ist das nicht der, der immer so gemein zu dir ist?« fragte Jenny wispernd.
Lucie nickte.
»Aber wieso ist der eigentlich hier? Ist das wirklich nur ein Zufall?«
Die dunkelhaarige Lehrerin antwortete nicht. Für sie war der Tag, der so schön werden sollte, schon jetzt verdorben.
Habe ich mich also doch nicht vertan, dachte sie, während sie neben der Freundin daherschritt. Wenn ich den Kerl im Biergarten gleich richtig erkannt hätte, dann wäre ich gleich wieder abgereist!
Jenny merkte, daß Lucie alles andere, als fröhlich gestimmt war. Sie klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
»Kopf hoch«, meinte sie. »Wir machen halt das Beste daraus.«
Während er die kleine Gruppe anführte, machte sich Sebastian so seine Gedanken. Daß Lucie Axel wirklich nicht ausstehen konnte, wie der junge Lehrer behauptet hatte, mochte er nicht so ganz glauben. Natürlich war ihre Reaktion eben nicht gerade begeistert gewesen, aber das lag einzig an der Überraschung, dem Kollegen so plötzlich und unerwartet gegenüberzustehen.
Noch beschloß er abzuwarten und erst einzugreifen, wenn es nötig werden sollte, aber der Bergpfarrer war überzeugt, daß ein wundervoller Tag vor ihnen lag.
*
Sie stiegen über den Höllenbruch und die Hohe Riest auf und hatten das Dorf schon bald hinter sich gelassen. Inzwischen war die Sonne vollends über den Horizont geklettert, und die ersten Wildtiere wurden aktiv, machten sich auf die Suche nach Futter. Die Wanderer blieben immer wieder stehen und beobachteten sie im Schutze der Felswand und des aufsteigenden Morgennebels.
Allmählich erreichte die Gruppe die mit kleinen Felsbrocken übersäte Bergwiese. Hoch über ihnen türmten sich die Gipfel auf, und unter ihnen lag St. Johann und nahm sich aus, wie eine Spielzeugstadt.
Axel hatte es bisher vorgezogen, Lucie aus dem Weg zu gehen. Er vermied es sie anzusehen oder gar anzusprechen, aber als Pfarrer Trenker das Zeichen zur Rast gab, kam der junge Lehrer nicht umhin, mit der Kollegin zu reden, trug er doch den Rucksack, in dem sich die Brotzeit befand.
Sebastian hatte einen schönen Platz ausgesucht, von dem aus sie einen herrlichen Blick hinunter ins Tal hatten. Axel schnallte den Rucksack ab und öffnete ihn.
»Möchtest du Kaffee oder Tee?« wandte er sich an Lucie.
Sie schluckte und ihr wurde bewußt, daß es das erste Wort war, das er seit der Begrüßung an sie richtete.
»Tee bitte«, antwortete sie.
Er nickte und schraubte die Thermoskanne auf. Seine Hand zitterte ein wenig, als er das heiße Getränk eingoß, und er hoffte, daß sie es nicht bemerken würde.
Lucie hatte während des bisherigen Aufstiegs kaum auf das reagiert, was Jenny mit ihr zu reden versucht hatte. Immer wieder schaute sie zu Axel, der vor ihnen ging, und überlegte dabei, was sie von der Tatsache, daß er es tatsächlich war, halten sollte. Es war ihr nicht nur ein Rätsel, wieso er in St. Johann war, noch viel mehr beschäftigte sie die Frage, warum sie schon gleich nach dem Aufwachen an ihn hatte denken müssen…
Axel