»Was machen die Männer?« rief Jenny.
Sie hatten die Balkontüren weit geöffnet und konnten sich so unterhalten, während sie in die frischen Kleider schlüpften.
»War dein ›Morgenstern‹ nicht traurig, daß er dich jetzt so lange nicht sehen wird?«
›Morgenstern‹ hatte sie Lucies Kollegen getauft, als sie erfuhr, daß Harald Stern für die Freundin schwärmte.
»Hör mir bloß auf«, stöhnte die Lehrerin. »Der wollte doch tatsächlich, daß ich mit ihm zusammen wegfahre. In seinem Wohnmobil!«
»Na ja, kann doch ganz schön romantisch sein, wenn man abends, eng aneinander gekuschelt, den Abendhimmel durch das geöffnete Dachfenster betrachtet«, scherzte Jenny.
»Vielen Dank«, antwortete Lucie. »So weit geht meine Sympathie für Harald denn nun doch nicht.«
»Aber du magst ihn schon, oder?«
Jenny war über den Balkon in Lucies Zimmer gekommen.
»Was heißt mögen? Er ist nett, und es macht Spaß, hin und wieder mit ihm auszugehen.«
Sie grinste verschwörerisch.
»Du weißt ja selbst, wie abwechslungsreich es in Boisheim ist…«
Sie hatte es absichtlich ironisch gesagt, denn viel Aufregendes geschah in dem kleinen Ort nun wirklich nicht.
»Nee, ehrlich, wir reden nett miteinander«, fuhr Lucie fort, während sie sich die Haare bürstete. »Aber um mit ihm in den Urlaub zu fahren, dazu reicht es nicht.«
Sie sah die Freundin an.
»Da wir gerade von Männern sprechen. Was ist denn mit dir?«
Jenny verzog das Gesicht.
»Also, von dieser Spezies habe ich im Moment die Nase gestrichen voll«, erwiderte sie.
Lucie erinnerte sich an ihr letztes Telefonat. Damals hatte die Freundin schon so merkwürdige Andeutungen gemacht.
»Dann ist es also endgültig aus, zwischen Jens und dir?«
Die junge Frau, die in Hamburg als Lehrerin arbeitete, nickte.
»Ja. Er hat inzwischen schon wieder eine andere Flamme, wie ich erfahren habe – obwohl die Hälfte seiner Sachen immer noch bei mir steht. Ich habe sie in den Keller geschafft. Wenn er sie nicht abholt, können sie von mir aus da unten verrotten.«
Lucie nahm sie in den Arm.
»Mensch, das tut mir ehrlich leid«, versuchte sie die Freundin zu trösten.
»Schon gut«, winkte Jenny ab. »Jetzt laß uns aber losgehen. Erstens will ich nicht mehr an den Kerl denken, und zweitens habe ich Hunger.«
Lucie schaute auf die Uhr.
»Jetzt schon? Wir haben doch gerade erst Kaffee getrunken.«
»Macht wahrscheinlich die Bergluft«, seufzte Jenny.
Oder der Kummer, setzte Lucie in Gedanken hinzu und nahm sich vor, in diesen zwei Wochen nur für die Freundin da zu sein.
*
Sie verließen die Pension und spazierten auf die Straße.
St. Johann war ein beliebtes Urlaubsziel, auch wenn hier manches fehlte, das Touristen anlockte. Anders als in anderen Ferienorten, fehlten Einrichtungen wie Spielcasino oder Diskothek. Dafür fand man hier etwas viel Wertvolleres – Ruhe und Erholung. Daß genau dies die Leute wollten, sah man an den zahlreichen Urlaubern, die man unschwer an den umgehängten Fotoapparaten und Videokameras erkennen konnte. Sie strömten in Scharen durch das Dorf und bevölkerten den Biergarten des Hotels.
Mit ein wenig Glück fanden die beiden Freundinnen dort einen freien Tisch. Es saß sich herrlich unter den hohen Kastanien, mit dem Stimmengewirr ringsherum. Man konnte sehen und gesehen werden, und die Speisen aus der Küche des Hotels mundeten vorzüglich.
»Was stellen wir denn so an?« fragte Jenny unternehmungslustig, während sie auf ihr Essen warteten.
»Auf jeden Fall gehen wir am Samstag zum Tanzen«, stellte Lucie fest. »Mal sehen, was für fesche Burschen den Saal unsicher machen…«
Jenny grinste.
»Nanu, hast du dir was für diesen Urlaub vorgenommen?« fragte sie.
»Was meinst du?« entgegnete Lucie verschmitzt.
»Komm, du weißt genau, wovon ich rede. Ich erinnere dich nur an unsere wilde Zeit, als wir nach Viersen, in die Disco, gefahren sind. Du hast am wildesten getanzt von uns beiden, und damit die Jungs verrückt gemacht. Ich wette, hier wird es nicht anders sein.«
Die Bedienung kam und enthob Lucie einer Antwort.
Dabei hatte sie wirklich nicht die Absicht, sich auf dem Tanzabend wie ein quirliger Teenager aufzuführen. Vielmehr wollte sie, daß Jenny sich amüsierte und die leidige Geschichte mit dem verflossenen Freund wenigstens hier, im Urlaub, vergaß.
Während sie aßen, ließ die junge Lehrerin ihren Blick schweifen. Die meisten Gäste waren Urlauber, wie Jenny und sie, aber auch ein paar Einheimische waren da.
Plötzlich stutzte Lucie und ließ die Gabel sinken. Für einen Moment glaubte sie, eine Halluzination zu haben; hatte sie doch tatsächlich gedacht, unter den Gästen jemanden gesehen zu haben, die sie hier überhaupt nicht vermutet hätte, und ein eisiger Schrecken durchfuhr sie.
Doch dann schüttelte sie den Kopf und aß weiter.
So ein Quatsch, das konnte ja überhaupt nicht sein, überlegte sie.
Was soll Axel Kramer ausgerechnet hier in St. Johann?
»Was ist denn los?« fragte Jenny, der die Irritation der Freundin nicht entgangen war.
»Ach, nichts«, winkte Lucie ab. »Ich hab’ nur gedacht, da drüben säße jemand aus dem Kollegium.«
Jenny warf einen Blick zu den anderen Tischen.
»Und, war da jemand?«
»Nein«, schüttelte Lucie den Kopf. »Das hätte mir auch noch gefehlt. Wenigstens in den Ferien will man ja vor den Kollegen Ruhe haben.«
Sie widmete sich wieder ihrem Salatteller und sprach weiter über die Urlaubsgestaltung. Natürlich wollten sie zum Schwimmen an den Achsteinsee fahren. In dem wunderschön gelegenen Gewässer konnte man herrlich baden, und wenn am Abend die Sonne unterging, spiegelte sie sich blutrot darin.
Und eine Bergwanderung stand auf dem Programm.
»Wir müssen gleich morgen früh Pfarrer Trenker einen Besuch machen«, erklärte Jenny. »Hoffentlich hat er Zeit für eine Tour.«
»Bestimmt«, sagte Lucie zuversichtlich. »Du kennst doch seine Leidenschaft für die Berge.«
»Hm, wenn ich an den Käse vom Thurecker-Franz denke, dann läuft mir jetzt schon das Wasser im Mund zusammen«, schwärmte Jenny.
Sie unterhielten sich bei einem Expresso weiter, bis es dann nicht mehr ging. Jenny gähnte verhalten und entschuldigte sich für ihre Müdigkeit. Die lange Autofahrt war doch sehr anstrengend. Sie bezahlten und standen auf. Als sie den Biergarten verließen, glitt Lucies Blick noch einmal zu dem Tisch hinüber, an dem sie Axel Kremer vermutet hatte – und sie erstarrte.
Nein, diesmal war es kein Irrtum. Dort drüben saß er und las in einer Zeitung. Trotz des gesenkten Kopfes erkannte sie ihn.
Rasch wandte sie sich ab und folgte Jenny. Dadurch sah sie nicht mehr, daß der junge Lehrer aufschaute und ihr mit einem spöttischen Lächeln nachblickte.