Der Schmerz, der schon die ganze Zeit an seinem Herzen nagte, wurde stärker. Er hatte gesehen, wie Männer aufgaben, Männer im Krieg, Männer, die ins Meer geschleudert worden waren, Männer, die keine Kraft mehr hatten, wenn Schmerzen oder schwere Wunden ihnen das Leben aussaugten. Aber er hatte nie jemanden aufgeben sehen, der gesund war. Nach der Schnelligkeit zu urteilen, mit der sie davongestürzt war, und nach der Kraft, die er gespürte hatte, als er sie vom Rand der Klippe zog, war dieses Mädchen ganz bestimmt gesund.
»Ben?«
Er blickte in Matties besorgtes Gesicht. Diese Besorgtheit nahm er schon all die Wochen seit seiner Rückkehr aus den Gewässern vor Cape St. Francis bei ihr wahr. Er versuchte, seinem Gesicht einen heiteren Ausdruck zu verleihen, und zwang sich zu lächeln. »Was muss man hier tun, um noch eine Tasse Tee zu bekommen?«
Mattie sah ihn still an. Dann stand sie auf und verließ das Zimmer.
Das Feuer knackte und spendete köstliche Wärme. Draußen heulte der Wind. Er presste die Lippen zusammen. Sein Knie klopfte noch immer vor Schmerz. Die Abwesenheit seiner Schwester mochte ein wenig Stille im Raum bringen, doch die Fragen in seinem Herzen schwiegen auch jetzt nicht. Warum hatte Gott ihn am Leben gelassen? Wegen Nächten wie dieser, in denen er vielleicht etwas Sinnvolles getan hatte?
Matilda kehrte mit einer frischen Kanne Tee und einer Tasse zurück. Sie schenkte ihm ein, er bedankte sich leise. Dann setzte sie sich wieder hin. »Hast du dich verletzt?« Sie nickte zu seinem schmutzverschmierten Bein hinunter. »Der Arzt hat dir doch gesagt, du sollst vorsichtig sein und nicht alles wieder schlimmer machen.«
Zu spät. Er versuchte, ihre Sorgen mit einem möglichst echt klingenden Lachen zu zerstreuen. »Du machst dir zu viele Gedanken, Mattie.« Er wandte sich an seinen Schwager: »Du wirst bald feststellen, dass meine Schwester dazu neigt, die Gabe des Mitgefühls, die sie besitzt, etwas überzustrapazieren.«
»Einer der Gründe, warum ich sie so liebe.«
Ben lächelte und hörte voll Freude das leise Aufseufzen seiner Schwester. Das Rot auf ihren Wangen hatte sich wieder vertieft. »Du machst dich nicht schlecht in deiner Rolle als Ehemann«, sagte er zu seinem Schwager und erhielt ein Grinsen und ein mildes »Das hoffe ich« zur Antwort.
Mattie setzte klirrend ihre Tasse ab. »Du weißt also nicht, wer es war?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass sie die Laterne stehen gelassen hat.« Er deutete auf die kleine Zinnlaterne auf dem Tisch neben der Tür.
»Sie?« Seine Schwester wechselte einen Blick mit ihrem Mann. »Benjie hat noch nie widerstehen können, wenn es darum ging, einem hübschen Mädchen in Not zu helfen.«
Sein Lächeln erstarb, als sie den lang vertrauten, oft belächelten Kosenamen gebrauchte. »Sie war nicht hübsch.« Das mochte gelogen sein, doch er hatte ihre Züge kaum erkennen können; sie hatten im Schatten der dunklen Kapuze gelegen. Er wusste nur, dass sie rabenschwarzes Haar hatte und eine hohe Stimme, die vermuten ließ, dass sie jünger war, als ihre Erscheinung und ihr Auftreten ahnen ließen.
Matilda lachte leise. »Vielleicht entpuppt sie sich ja als wunderschöne Prinzessin.«
»Das bezweifle ich.«
»Wie schade«, sagte Mattie. »Nun, jedenfalls brauchst du eine Frau. Vielleicht sollten wir diese geheimnisvolle Dame finden und ihr Geheimnis lüften.«
Er schob seinen Stuhl zurück und zwang sich aufzustehen, ohne zu stöhnen. Das arme Geschöpf, das er heute Nacht kaum richtig hatte wahrnehmen können, sollte sein Geheimnis preisgeben? »Viel Glück dabei.«
»Wir brauchen kein Glück dazu«, antwortete Mattie mit einem entschlossenen Glimmen in den Augen. »Wir brauchen nur Gottes Hilfe.«
Er nickte, sagte Gute Nacht und verließ das Zimmer, um die Treppe in seine Schlafkammer hinaufzusteigen. Sein Herz war schwer. Die Erfahrung sagte ihm, dass Matilda nicht ruhen würde, bis die geheimnisvolle Dame gefunden war.
Das Klopfen drang in ihre Träume. Es waren wilde, erschreckende Träume. Träume vom Fallen und Stürzen, tief hinunter auf sich gierig emporreckende Felsen. Clara erwachte mit einem Keuchen, nach Luft ringend, und versuchte im selben Moment, sich zu beruhigen, da nach einem kurzen zweiten Klopfen sogleich das Mädchen eintrat.
»Verzeihung, Miss, aber die gnädige Frau wünscht Sie unten zu sehen.«
Sie blickte zum Fenster. Durch die Vorhänge drang helles Sonnenlicht. »Wie spät ist es?«
»Fast Mittag, Miss.«
Sie setzte sich hastig auf. »Ich hatte keine Ahnung, dass es schon so spät ist.«
»Sie haben heute den Gottesdienst verpasst.«
Sie verpassten den Gottesdienst an den meisten Sonntagen. Warum sollte es heute anders sein?
Meg stand noch immer in der Tür, offensichtlich unsicher, was von ihr erwartet wurde. Clara unterdrückte einen Anflug von Ärger. Wenn sie doch nur wieder eine richtige Zofe hätte, eine, die wartete, bis sie zum Eintreten aufgefordert wurde, eine, die frisieren und den Mund halten konnte.
Meg ging halbherzig einen Schritt auf den Stuhl zu, über dem der Mantel hing.
»Lass ihn bitte liegen. Ich kümmere mich später darum.«
»Ganz sicher, Miss?«
»Natürlich bin ich sicher.«
Der beschämte Gesichtsausdruck des jungen Mädchens ließ sie ihre Schroffheit sogleich bereuen, doch Meg wandte sich um und verließ das Zimmer, bevor Clara sich entschuldigen konnte. Seufzend schlug sie die Bettdecke zurück, trat ans Fenster und zog die Vorhänge auf. Dabei starrten sie die Zeugen ihres nächtlichen Ausflugs vorwurfsvoll an: der feuchte Überwurf, die schlammverkrusteten Stiefelchen. Sie hob den Überwurf auf und schüttelte ihn aus, um die schlimmsten Falten zu entfernen. Meg würde es Mutter sagen, wenn sie ihr Kleidungsstücke zum Reinigen gab, ohne ihr einen Grund zu nennen. Und Clara hatte seit Tagen keinen Grund gehabt, diesen Überwurf zu tragen. Jedenfalls keinen, den sie ihrer Mutter nennen konnte.
Sie zog ein schlichtes Morgenkleid an, dann ging sie zur Frisierkommode und versuchte, ihr Haar in Ordnung zu bringen. Doch so heftig sie auch bürstete, die dunklen Locken wollten sich nicht fügen. Wieder wünschte sie sich sehnlichst eine richtige Zofe, unterdrückte den Wunsch jedoch sogleich wieder. Solange sie nicht sicher sein konnten, sich mit dem Lohn auch das Schweigen der Dienerschaft zu erkaufen, hatte Vater beschlossen, keine zusätzlichen Leute einzustellen. Die wenigen, die sie im Moment hatten, dienten der Familie schon seit Jahren und hielten, wenn nicht aus Treue, so doch aus Gewohnheit, den Mund.
Das holzgerahmte Oval zeigte ihr Spiegelbild: strähniges Haar, zu blasse Haut, hellgrüne Augen mit tiefen Schatten darunter. Ihre Nase und ihre Wimpern waren ansehnlich, aber ihr Kinn wirkte in letzter Zeit zu spitz. Und was war das für ein Fleck? Sie sah genauer hin, verdrehte den Hals, um ihr Kinn besser sehen zu können, und stöhnte auf. Tatsächlich, da war ein Pickel. Aber warum sollte sie das stören, wenn es doch niemand anderen scherte?
Tränen traten ihr in die Augen. Ihr Schultern sackten nach vorn. Wie hatte das alles nur geschehen können? Wie kam es, dass sie, die Königin der Londoner Ballsäle, im winzigen Schlafzimmer eines hässlichen Hauses in einem Möchtegernbadeort saß und sich wegen eines Pickels aufregte?
Es war unwichtig. Alles war unwichtig. Auch sie selbst. Ihr Wert für ihre Eltern bemaß sich einzig und allein