Brighton Cliffs, England
April 1815
Die Hochwohlgeborene Clara DeLancey stand auf den weißen Klippen. Hoch über ihr jagten schwere Wolken vor dem Mond vorbei, sodass die Szenerie unten abwechselnd hell beleuchtet wurde und in bedrohliches Dunkel sank.
Zu ihren Füßen glomm die Laterne, die sie für ihren nächtlichen Ausflug geborgt hatte. Tief unter ihr schäumten die aufgewühlten Wasser des englischen Kanals weiß und tödlich. Der Wind peitschte ihr die Kleider gegen den Körper und zerrte an ihr wie die Verzweiflung, die seit Monaten in ihr tobte und endlich herauswollte.
Sie beugte sich nach vorn in den Nachtwind. Sie schloss die Augen und atmete tief den salzigen Hauch ein, nur halbherzig hoffend, dass er seine wütende Kraft behalten möge. Die Gischt nässte ihr Gesicht. Sie atmete noch einmal ein und noch einmal. Seit Wochen hatte sie sich nicht mehr so lebendig gefühlt.
Der Wind wurde lauter. Er dröhnte ihr heulend und wild in den Ohren. Wie launisch die Natur doch sein konnte, wie grausam; sie konnte Schiffsunglücke verursachen, aber auch das Leben erhalten. Wie seltsam, dass etwas an einem Tag so sehr bewundert und am nächsten gefürchtet oder gar verachtet werden konnte. Sie lachte auf. Es war ein kurzes, abgehacktes Lachen. So war es ihr selbst ergangen. Sie war nun verachtet.
Ein Kaleidoskop von Bildern schoss ihr durch den Kopf: ein attraktiver Mann, eine schöne Dame, ein Ballsaal, vibrierend von den Erwartungen der feinen Gesellschaft. Ein gebrochenes Versprechen. Seelenzerfressende Scham.
Wieder kochte die Wut in ihr hoch. Wie konnte er nur? Sie rang nach Luft. Wie hatte er sie nur abweisen können?
Sie öffnete die Augen. Spähte durch die Düsternis nach unten, wo Schaumkronen auf den donnernden Wellen tanzten. Noch immer wehte der Wind gnadenlos und riss ihr die Kapuze des Überwurfs vom Haar. Würde er sie festhalten, wenn sie einen Schritt nach vorn trat? Wollte sie das überhaupt? Sie neigte sich noch etwas weiter vor. Das Tosen der Wellen wurde lauter, lauter. Sollte sie es wagen?
»Miss!«
Sie schrak zusammen und sprang vor Schreck hoch. Die Steinchen unter ihren Füßen rutschten weg. Sie verlor das Gleichgewicht und rutschte dichter an die heimtückische Kante heran.
In diesem Moment wusste sie, dass sie nicht sterben wollte.
Sie schrie auf.
Eine feste Hand packte ihre.
Sie klammerte sich verzweifelt fest. Ihre schwarzen Locken schlugen ihr ins Gesicht. Ein wildes Feuer kroch ihren rechten Arm hinauf, bis es sich anfühlte, als würde er brechen. Verzweifelt tastete sie zwischen den Felsen und dünnen Büscheln Gras nach Halt.
Ganz langsam wurde sie über die Felskuppe gehievt. Ein letzter Ruck riss sie nach vorn, dann brach sie auf dem grasbewachsenen Klippenrand zusammen. Ihr Herz raste schneller, als ihre Finger je auf dem Klavier gespielt hatten. Sie rang nach Atem und rieb sich den rechten Arm, der beinahe ausgekugelt worden wäre. Sie würde nie mehr Klavier spielen.
Beinahe hätte sie überhaupt nie mehr irgendetwas getan.
Schuldgefühle durchzuckten sie so heftig, dass es schmerzte. Wie hatte sie etwas so Törichtes tun können? Was hatte ihren Retter bewogen, sein Leben für sie aufs Spiel zu setzen?
Sie drehte den Kopf. Er lag neben ihr, keuchend, eine Hand über das Gesicht geschlagen. Ein Engel, von Gott gesandt? Wohl kaum. Es sei denn, Gott beschäftigte Engel, die aussahen wie abgetakelte Seefahrer, wie dieser in einen Robbenfellmantel gekleidete Mann mit einem ramponierten Dreispitz auf dem Kopf. Sie rückte ein Stückchen von ihm ab, stützte sich auf ihre abgeschürften Hände und Knie und rappelte sich leise stöhnend hoch. Dann strich sie sich das Haar zurück und zog die Kapuze bis fast zu den Augen herunter. Vielleicht hatte er sie ja noch gar nicht richtig gesehen und würde sie nicht wiedererkennen und ihrer bereits beeindruckenden Sammlung nicht noch einen Schandfleck mehr hinzufügen.
»Miss?«
Engel knurrten auch nicht, oder? Sie spähte zu ihm hinüber. Und ganz bestimmt besaßen sie keine leuchtend blauen Augen, die einen Menschen mit zornigen Blicken durchbohrten.
»Was um Himmels willen haben Sie sich dabei gedacht?«, schimpfte er überhaupt nicht engelhaft und stand ebenfalls auf.
Sie schrak zurück, kläglich wie ein Kaninchen, fort von dem trüben Schimmer der Laterne. »D…danke.« Ihre Stimme war zu leise, sie drang nicht durch das Tosen des Winds. Sie versuchte es noch einmal, etwas lauter: »Danke.«
Der Mann stand jetzt aufrecht und tat einen Schritt auf sie zu. Er hatte rotblondes Haar und war sehr viel größer, als sie anfangs hatte erkennen können. »Danke? Mehr haben Sie nicht zu sagen?« Was konnte sie denn noch sagen?
»Was um alles in der Welt haben Sie da getan?«
Sie trat zurück und hob das Kinn. »Danke, dass Sie mich gerettet haben«, jetzt war ihre Stimme eindeutig zu hoch und zu quiekend, »aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas so Persönliches sagen muss.«
»Etwas so Persönliches? Miss, wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich Ihnen gerade das Leben gerettet habe? Sie hätten sterben können. Ich hätte sterben können. Was war das für ein törichtes Spiel, das Sie da gespielt haben?«
Clara zog den Mantel enger um sich. Schauder krochen ihr den Rücken hinunter. Wie konnte sie ihm den Augenblick des Wahnsinns erklären? Es war kein Spiel gewesen; es war um Leben und Tod gegangen. Tränen traten ihr in die Augen. Gott sei Dank verbarg die Kapuze ihr Gesicht. Höchstwahrscheinlich würde er sie nicht wiedererkennen.
Er betrachtete sie einen Moment. Sein helles Haar leuchtete im launischen Mondlicht, die harten Konturen seines Gesichts wurden weicher. »Schauen Sie, Miss, es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Aber Sie standen so dicht am Abgrund.« Er schüttelte den Kopf. Sein Stirnrunzeln kehrte zurück. »Was tun Sie überhaupt hier um diese nachtschlafende Zeit?«
Sie schüttelte ebenfalls den Kopf und trat einen Schritt zurück auf den Weg, weg vom Rand der Klippe.
Er schnaubte. »Einen Liebhaber treffen oder was?«
Wieder lachte sie hart und kurz auf. Es klang wie das Krächzen eines sterbenden Vogels. Wenn er wüsste! Er gehörte ganz offensichtlich nicht zur feinen Gesellschaft, sonst hätte er sie mit Sicherheit erkannt und mit ebensolcher Sicherheit gewusst, wie unwahrscheinlich das war. Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Nein?« Er zog die Brauen hoch und sah sie neugierig an.
Clara trat abermals einen Schritt zurück. Sie hatte den Eindruck, wenn sie floh, würde er ihr nachsetzen, doch wenn sie noch etwas sagte, würde sie nicht unerkannt bleiben können. Wenn sie es schaffte, nach Hause zurückzugelangen, ohne dass eine dieser beiden Möglichkeiten eintrat, hatte sie eine Chance, ins Bett zu schlüpfen und so zu tun, als sei das Ganze ein Albtraum gewesen, den sie niemals wieder träumen würde.
»Haben Sie immer noch nichts zu sagen?« Er lachte. Es klang überraschend freundlich. »Hören Sie, sagen Sie mir wenigstens Ihren Namen. Oder wo Sie leben. Es muss doch irgendwo irgendjemanden geben, der sich um Sie sorgt.«
Jemand, der sich um sie sorgte? Kummer stieg in ihr auf, so sicher und nie endend wie die Wellen da unten, die gegen die Felsen schlugen.
»Schauen