Die zweifelhafte Miss DeLancey. Carolyn Miller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolyn Miller
Издательство: Bookwire
Серия: Regency-Romantik
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783775174862
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»Sie haben doch Eltern, oder nicht?«

      Sie trat noch einen Schritt zurück. Er folgte ihr. Was für ein bizarrer Klippentanz im Mondlicht, den die Engel heute Nacht zu sehen bekamen. Die Engel, die ganz eindeutig nicht herabgestiegen waren, um ihr zu helfen, sondern sich das Schauspiel lieber von oben ansahen, wie die ärmeren Besucher im höchsten Rang des Theaters in Covent Garden. Warum sollte Gott auch Engel schicken, ihr zu helfen? Er sorgte sich mit Sicherheit nicht um sie.

      Sie machte noch einen Schritt und noch einen. Als sie weit genug von ihm entfernt zu sein meinte, flüsterte sie ein letztes Dankeswort, drehte sich um und floh in die Dunkelheit.

      Hinter sich hörte sie ihn rufen: »Hey!« Doch sie blieb nicht stehen. Sie konnte nicht stehen bleiben. Gott sei Dank konnte ihre Mutter sie nicht sehen. Gott sei Dank konnte Lady Osterley sie nicht sehen. Jegliche Hoffnung, ihren guten Ruf wiederzugewinnen, wäre für immer dahin. Sie raffte ihre Röcke und rannte schneller und schneller, doch plötzlich ließ ein Geräusch sie ruckartig innehalten: ein kurzer Schrei, dann ein dumpfer Aufschlag. Ihr Herz klopfte heftig. Er konnte doch nicht von den Klippen gestürzt sein? Sie drehte sich um und sah eine Gestalt am Boden liegen. Doch wenn sie zurücklief und nachschaute, ob er verletzt war, würde das ihre Flucht gefährden und ihre Chance, unerkannt zu bleiben. Sie lief schneller, keuchend, mit brennenden Lungen. Wenn jemand sie sah, musste er sie für eine Verrückte halten. Sie schluchzte auf. Wer sie kannte, würde dasselbe denken.

      Endlich – ihre Lungen drohten zu platzen, sie schmeckte Blut im Mund, ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren – sah sie, dass der Weg, den sie die letzten vierzehn Tage täglich gegangen war, in die Straße mündete, die von Brighton nach Rottingdean führte. Jetzt rannte sie nicht mehr, sondern verfiel ins Gehen, während sie sich dem sanften Halbrund fast neuer Häuser näherte, welche die äußersten Ausläufer Brightons bildeten. Natürlich war keins der bescheidenen Reihenhäuser groß genug, um den Ansprüchen ihrer Eltern zu genügen, doch das spielte keine Rolle. Lord und Lady Winpoole empfingen in diesen Tagen ohnehin kaum Besucher. Außerdem war es in der Welt ihrer Familie inzwischen unwichtig geworden, wieweit gewisse Ansprüche befriedigt wurden. Wichtiger war, was sie sich leisten konnten.

      Sie hastete an dem zentral gelegenen kleinen Park mit seiner jämmerlichen Statue des Regenten vorbei. Der Künstler hatte sich zweifellos großen Ruhm davon versprochen, doch das Kunstwerk hatte ihm lediglich Verachtung eingetragen. Die Proportionen der Figur waren restlos missraten und inzwischen fehlte ihr sogar der rechte Arm. Die Flüchtende vermied es sorgfältig, die kiesbestreuten Wege zu betreten, und eilte zum Haus Nummer zehn. Zum Glück fiel aus dem Haus ihrer Nachbarn, älterer Leute, kaum Licht. Dann musste sie erst einmal ihren stoßweise gehenden Atem beruhigen, um so geräuschlos wie möglich ins Haus schlüpfen zu können. Sie stieg die Stufe zur Vordertür hinauf, die Gott sei Dank unverschlossen war. Mit einem Drehen des Griffs war sie drin. Einen Augenblick später hatte sie ihre Schuhe in der Hand und schlich die Treppe hinauf, indem sie die achte und neunte Stufe mied, die hässlich knarrten, wenn man darauftrat. Eine Minute später lag sie mit klopfendem Herzen im Bett; ihr pelzbesetzter, modischer Mantel hing zerknittert über einer Stuhllehne, der Überwurf lag als Häufchen auf dem Boden: Die Kleidungsstücke würde sie am Morgen in Ordnung bringen müssen.

      Clara schlang einen Arm um ihr Kissen und schmiegte sich in die Wärme. Unten schlug die Uhr Mitternacht.

      Sie schloss die Augen. Noch immer hämmerte ihr Herz in ihrer Brust, nicht zuletzt aus Angst vor möglicherweise drohenden Träumen.

Ornament

      »Benjamin Richard Kemsley!« Die Augen seiner Schwester wurden groß.

      Ben stolperte mit ausgestreckten Händen zum Kamin. Wenn sie doch nur schneller warm werden würden! Er hatte Tausenden eisiger Nächte auf dem offenen Meer getrotzt, doch noch nie hatte er so gefroren wie heute Nacht. Verstohlen sah er zu seiner Schwester hinüber. Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

      Matilda klappte ihren Mund mit einem hörbaren Schnappen zu. »Was ist dir nur eingefallen, einfach so in die Kälte hinauszulaufen? Sieh dich doch an! Du siehst aus, als seist du ganz allein Napoleon entgegengetreten!«

      Er unterdrückte ein leichtes Bedauern bei dem Gedanken, einen solchen Kampf verpasst zu haben, und nickte Matildas Mann zu. Hochwürden David McPhersons Sanftheit und Milde bildeten das perfekte Gegengewicht zu Matildas übersprudelnder Lebhaftigkeit, einem Charakterzug, den Bens ganze Familie zu besitzen schien.

      Ein Geräusch ließ ihn zur Wohnzimmertür blicken, in der ein weiteres Mitglied des Haushalts erschienen war, die junge Tessa. Ihr rotes Haar war verstrubbelt, als sei sie gerade aufgewacht. »Benjie!«

      »Warum bist du nicht im Bett, kleine Schwester?«

      »Ich habe Geräusche gehört.« Sie runzelte die Stirn. »Und warum bist du nicht im Bett?«

      »Weil ich nicht siebzehn bin.« Er wuschelte ihr durchs Haar und lächelte, als sie gegen diesen Beweis seiner Zuneigung protestierte.

      »Was ist …« Sie betrachtete ihn genauer, ihre blauen Augen wurden groß. »Um Himmels willen!«

      Sein Lächeln erlosch, als ihm die Ereignisse von vorhin wieder einfielen. Ja, er hatte heute Nacht die Stimme des Himmels gehört, die ihn hinausgerufen hatte. »Genau das.«

      »Was ist passiert?« Matilda bedeutete ihm, sich zu setzen, und reichte ihm eine Tasse dampfenden Tee. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.«

      »Ich …« Er konnte es nicht erklären. Wie sollte er ihnen beschreiben, dass er plötzlich den Drang empfunden hatte, zur Felskuppe zu gehen, obwohl draußen beinahe Sturm herrschte? Unmöglich. »Ich musste ein Stückchen gehen.«

      »Heute Nacht?«

      Er nickte seiner Schwester zu und wechselte dabei einen raschen Blick mit dem Pfarrer. Vielleicht konnte er mit seinem Schwager über seinen Verdacht reden, aber das war nicht möglich, solange Tessa im Zimmer war.

      Matilda machte ein ernstes Gesicht. Dann sagte sie leise etwas zu Tessa. Was es auch gewesen sein mochte, Tessa umarmte ihn und flüsterte: »Ich bin froh, dass du in Sicherheit bist.« Dann verließ sie das Zimmer.

      Blieb noch seine andere, nicht so leicht zufriedenzustellende Schwester. Sie zog die Brauen hoch. »Nun?«

      Er zuckte die Achseln. »Ich hatte mir Tessas Fernrohr geholt und habe ein Licht gesehen.«

      »Ein Licht?« Sie seufzte. »Soll das heißen, du warst mal wieder unterwegs, um die Welt zu retten?«

      »Schon gut. Das will ich gar nicht.«

      Sie schnaubte, aber es klang mehr wie ein Lachen. »Warum glaubst du nur immer, alles und jeden retten zu müssen. Ich werde das nie verstehen!«

      »Mattie«, sagte ihr Mann leise.

      Ben sah sie ruhig an. Hundert erbarmungslose Erinnerungsbilder stiegen in seiner Seele auf: der Himmel über Afrika, verzweifelte Kinder, haiverseuchte Gewässer, ein nicht gerettetes Leben.

      Sie war rot geworden. »Stimmt doch!« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Bruder, der Retter.«

      »Nicht immer«, murmelte er. Seine Stimme klang belegt von Gefühlen. Er räusperte sich. »Ich habe ein Licht auf den Klippen gesehen.«

      »Was? Bei dem Wetter war jemand da draußen?«

      »Jawohl.«

      »Wer war es? Jemand, den wir kennen?«

      Er warf einen Seitenblick zu David hinüber, dann sah er in die blauen Augen seiner Schwester. »Ich kenne ja meinen neuen Schwager kaum, ganz zu schweigen von den vielen Leuten, mit denen du bekannt bist, liebe Schwester.«

      Die Röte, die ihr Gesicht angenommen hatte, vertiefte sich, doch ihr Blick ließ ihn nicht los. »Was meinst du, warum war derjenige dort?«

      »Ich weiß es nicht.«

      Er dachte an das Mädchen. Er hatte einen