Österreich intim. Berta Zuckerkandl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Berta Zuckerkandl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902862303
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wenige Menschen. Zwei Paare, jung, dem Leben frühlingshaft sich zuwendend, ein alter Mann, rührend wie der sich im Herbst entblätternde Baum, und eine eisigen Winterfrost kündende, unheilvolle Figur: der fremde Herr.

      Ich schicke Dir bald das Buch. Du wirst sehen, was so einzig, so unwiederholbar ist: die Wahrheit, das Lebensnahe, die Greifbarkeit dieser Menschen. Die Gestalt der Christine – des einfachen Bürgermädchens, das zum ersten, zum einzigen Mal liebt –, diese Gestalt: unschuldig, schüchtern in ihrer Selbstvergessenheit ist ein hinreißendes Gebilde von solcher Kraft des Leidens, wie – ich sage es ruhig –, wie man es seit dem Gretchen nicht auf der Bühne gesehen hat. Ja, ein modernes Gretchen ist dieses süße Mädel.

      So nennt Schnitzler die jungen Wienerinnen aus der Vorstadt, deren anmutig heitere Natur, die oft an Leichtfertigkeit grenzt, einen der Reize der Wienerstadt bildet. Oft Eintagsblüten der Liebe. Einer aber, die wie Christine liebt, der bricht das Herz.

      Deine Berta.

      »Es kommt im Dasein eines Theaterdirektors wohl nur einmal vor, dass er ein dramatisches Genie entdeckt und gleich mit einem Erstlingswerk diesen phänomenalen Erfolg erringt.«

      »Die Götter werden mir das nicht so bald verzeihen, dieses neidige Gesindel«, erwiderte Burckhard. »Vorläufig genieße ich aber Schnitzlers Triumph, der auf mich zurückstrahlt.«

      »Eine schöne Aufführung. Nur den alten Musiker, Christines Vater, hätte ich mir volkstümlicher gedacht, als Sonnenthal ihn spielt.«

      »Gewiss, Sonnenthal ist etwas zu elegant, zu vornehm. Die Künstler des Burgtheaters werden ihren pathetischen Klassikerstil erst allmählich loswerden. Bedenken Sie: Ein Dialog, wie ihn der junge Schnitzler schreibt, dieser federnde Rhythmus, diese Unmittelbarkeit der Worte – das meistert man nicht so leicht.«

      »Mitterwurzer7 kann es. Nur wundert es mich, dass er eine so kleine Rolle übernommen hat.«

      »Übernommen? Gefordert hat er sie. Er hat gesagt: ›Ich muss den fremden Herrn, diesen betrogenen Ehemann spielen, der sich sein Opfer holt. Ich spüre: Das ist der Tod in Person, der bei dem jungen Geliebten seiner Frau eintritt. Tod muss den korrekten Gentleman umwittern, den ich in elegantem, drapfarbenem Überzieher, steifem, rundem Hut und gelben Handschuhen vor mir sehe. Tod muss das Publikum erschauernd fühlen. Das darf aber nicht etwa symbolisch, romantisch inszeniert werden. Ganz einfach, ohne Gesten, ohne die Stimme zu erheben, korrekt, höflich wird der fremde Herr – das heißt der Tod – dastehen.‹ Und es hat genauso gewirkt.«

      »Eigentümlich, dass sich Schnitzler nach dem mondänen ›Anatol‹, den er ja aus erlebtem Milieu gestaltet hat, ganz anders entwickelt. Ich möchte sagen: zu Schubert, zum Volkslied hin, denn dieses einfache, ergreifende, herzinnige Stück möchte ich geradezu als Volkslied bezeichnen. Ich bin immer so neugierig, den Ursprung, die Keimzelle von eines Dichters Einfall kennenzulernen.«

      »Schnitzler hat mich etwas dergleichen lesen lassen. Gestern nimmt er aus dem Schreibtisch einen kleinen Zettel. Darauf sind ein paar Worte gekritzelt.

      ›Sehen Sie‹, sagte er, ›das ist mir plötzlich eingefallen, einmal auf einem Spaziergang. Das ist sozusagen der Embryo der Liebelei. Ich habe den Zettel abgeschrieben. Extra für Sie.‹ – Auf dem Zettel steht:

      ›Das arme Mädel. Das sag ich dir gleich. Viel kann ich mich mit dir nicht abgeben … Sie liebt ihn abgöttisch. Er sitzt im Parkett, sie auf der Galerie. Beim Kommen sieht sie ihn mit jener schönen Dame, mit der er ein Verhältnis hat … Er hat wegen jener anderen ein Duell … Den Abstand vorher bei dem armen Mädel … Am nächsten Tag wird er erschossen … Sie steht fern, als er begraben wird, weiß nichts. Jetzt erfährt sie, dass er wegen einer anderen gestorben ist, und wankt nach Hause. Er war ihr noch einmal gestorben.‹

      Aus diesen paar Worten ist die ›Liebelei‹ geworden. Von hier geht für das moderne Theater ein ebenso neues Sein aus wie von Ibsen.«

       Wien, 1918

      »Ich bin’s, Girardi. Du Hilfreiche, steh mir bei! Ich hab so eine Angst. Nicht einmal bei meiner Antrittsvorstellung vor sechs Wochen im Burgtheater hab ich so ein fortwährendes Erdbeben in mir gespürt. Und weiß Gott, dass ich auf der Burgtheaterbühne einmal den Aschenmann von Raimund spielen werde, das war doch zum Niederknien.«

      »Nach deinem unbeschreiblichen Erfolg kannst du wirklich ganz ruhig sein.«

      »Das ist nicht dasselbe. Raimund, bei dem bin ich aufgewachsen … Aber einen Schnitzler spielen, einen Dichter, der noch am Leben ist und der sich einen Menschen aus dem Herzen geschnitten hat – wie ein Sakrileg kommt es mir vor, den Leuten den alten Weyring vorzugaukeln. Obwohl ich sein Gemüt bis in die Knochen spür’ … Nein – nein … Ich bring es nicht zusammen.«

      »Vielleicht kann ich dir helfen. Willst du Schnitzler hier bei mir die Rolle vorspielen? Ganz allein werdet ihr sein. Wenn du dann merkst, dass ihm deine Art nahegeht …«

      »Berta! Ich sag immer: Du hast das Genie der Freundschaft. Ja, wenn mir Schnitzler sagt: Girardi – Sie sind der, den ich lebendig gemacht hab – dieser weise, gute, biedere alte Mann, dem das Herz gebrochen wird –, dann hab ich keine Angst mehr.«

      »Lieber Freund. Es ist wegen Girardi. Ich fürchte, dass seine rührende Bescheidenheit ihm und Ihnen schaden wird. Sie müssen eingreifen. Ihm Mut machen, und deshalb eine Bitte: Darf er Ihnen den alten Weyring bei mir vorspielen? So, als gäbe es kein Theater, nur einen, der spricht – und den anderen, der zuhört wie einem Geständnis?«

      »Sagen Sie Girardi, dass mich sein Vertrauen freut, wann wollen wir uns bei Ihnen treffen?«

      »Morgen um fünf, wenn es Ihnen recht ist.«

      »Grüß Sie der Himmel!« (Es ist der schöne, nur ihm eigene Gruß, mit dem Schnitzler seinen Freunden Guten Tag sagt.) »Ich komme absichtlich früher. Morgen beginnen die Proben von ›Liebelei‹. Wenn sich Girardi wirklich so unsicher fühlt, so ist das eine Gefahr.«

      »Deshalb habe ich Sie gerufen: Sie sind Seelenarzt und könnten diese hysterische Stimmung verscheuchen …«

      »Ich wundere mich nur, wie ein Künstler, der eine solche Apotheose des Ruhms erlebt hat, statt an Größenwahn an Kleinheitswahn erkrankt?«

      »Ja, lieber Freund – mitten im Krieg, in einem Augenblick schrecklicher Spannungen – diese glanzvolle Vorstellung. Die Hoflogen überfüllt. Die kaiserliche Familie, die Erzherzöge vollständig erschienen. Tout Vienne versammelt. Und nach dem ›Hobellied‹ – unter uns, hat Raimund da nicht das revolutionärste aller Lieder geschrieben …? ›Das Schicksal setzt den Hobel an und hobelt alle gleich!‹ nach der erschütternd wehmütigen Schlichtheit, die Girardi verklärt hat, diese Ovation! Wie sich alle erhoben – die Erzherzöge das Zeichen gaben, ihn zu ehren –, als reinsten Ausdruck des österreichischen Wesens.«

      »Ich erinnere mich kaum, ähnlich ergriffen gewesen zu sein. Bin mir aber nicht ganz klar, warum.«

      »Vielleicht, weil auch Sie gefühlt haben – ohne es sich einzugestehen –, das war der Abschied von Österreich.«

      »Beschwören Sie nicht Dinge herauf, an die wir nicht rühren wollen …«

      »Herr Doktor, es ist großmütig von Ihnen, mir armem Spaßmacher zu helfen. Auf einmal soll ich von einem berühmten Autor, der gar noch lebendig ist, eine tragische Figur vorstellen. Meinem Vorgänger, dem berühmten Sonnenthal, hab ich einmal gesagt: ›Haben vergessen, die Wasserleitung abzudrehen. Es tropft fortwährend.‹«

      »Wie ich ihn gekannt habe«, meinte Schnitzler, »hat er herzlich gelacht.«

      »Ja. Er war wirklich lieb. Nur das Theaterspielen war ihm so eine Gewohnheit geworden – auch im Leben. Kennen Sie die Geschichte, die ich mit ihm erlebt habe – in Graz, bei einem Gastspiel? Wir nachtmahlten im Hotel. Man bringt mir einen Brief, darin steht, dass mein guter alter einstiger Direktor Prohaska gestorben ist. ›Denken’s Ihnen‹, sage ich zu Sonnenthal, ›der Prohaska ist gestorben.‹ – ›Prohaska tot!‹, schreit Sonnenthal auf, mit so schmerzlich bebender Stimme, dass mir ganz