Österreich intim. Berta Zuckerkandl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Berta Zuckerkandl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783902862303
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sein Ideal, die Oper als Gesamtkunstwerk, zum Leben zu erwecken.

      Die Erneuerung des »Figaro«, die Vergeistigung dieses Meisterwerks, und die Auferstehung des »Fidelio« sind Marksteine der Operngeschichte.

      Ich hatte das Glück, einigen Proben des »Fidelio« beizuwohnen. Eines Tages wandte sich Mahler an das Orchester:

      »Von nun an, meine Herren, spielen wir die dritte Leonoren-Ouvertüre nach der Kerkerszene, weil dieses Opus die durchlebte Skala der dramatischen Handlung in ungeheurer Steigerung zusammenballt. Erst so wirkt der Sieg des Edlen über die Gewalten der Niedertracht überwältigend.«

      Der einzigartige Mann, der in seinem harten Streben asketisch geworden ist, den Sinn für die Gottesgabe »Freude« verloren hat, findet in Wien wie so viele Musiker die Erlösung. Die Landschaft und Wien, die schon Beethoven und Schubert bezaubert hatten, und ein wunderbares Wiener Mädchen haben dies vollbracht.

      »Gustav Mahler. Guten Tag. Ich bringe Ihnen Grüße aus Paris.«

      »Vielen Dank, Herr Direktor, dass Sie sich diese Mühe nehmen.«

      »Zu danken habe ich Ihren Verwandten3 in Paris. Dort fand ich Verständnis, wirkliche Musikliebe … Nur das hat mich bewogen, Sie anzurufen. Ist sonst nicht meine Art.«

      »Ich traue mich kaum, Sie zu fragen, ob es Ihnen passt, einen Abend bei uns zu verbringen?«

      »Vielleicht entschließe ich mich dazu. Aber es ist ein Opfer. Und nur unter der Bedingung: Keine Gesellschaft, sonst laufe ich davon.«

      »Das weiß ich. Sie brauchen nichts dergleichen zu befürchten.«

      »Donnerstag bin ich frei. Ich esse nur Grahambrot und Meraner Äpfel. Empfehle mich.«

      »Hier Anna Moll … Kann ich Hofrat Zuckerkandl sprechen? Emil, ich möchte dich konsultieren.«

      »Mich? Ich kuriere doch nur Leichen.«

      »Ja, ich weiß. Aber ich bilde mir ein, dass ein berühmter Anatom wie du vieles besser weiß als so ein Auswendigkurierer.«

      »Also, was gibt es?«

      »Es ist wegen Alma4. Das Mädel magert ab, ist ganz blass und – kannst du dir das vorstellen, ist ganz still geworden. Was mir am meisten auffällt, sie kokettiert gar nicht mehr.«

      »Das ist allerdings bedenklich. Was sagt euer Arzt?«

      »Blödsinn. Dass sie bleichsüchtig ist. Es gibt nur eine Erklärung. Alma sitzt beinahe jeden Abend in der Oper. Sie kommt dann ganz verweint nach Hause, setzt sich ans Klavier und spielt stundenlang.«

      »Soll ich eine Diagnose stellen? Es ist möglich, dass die Suggestionskraft dieses Musikers an der sogenannten Bleichsucht schuld ist. Sollte das der Fall sein, vielleicht kann ich Alma kurieren.«

      »Dann bist du ein Hexenmeister.«

      »Schick sie Donnerstagabend zu uns. Kann sein, ich beginne mit meiner Kur.«

Mme. Paul Clemenceau, Paris Wien, den 30. November 1900

      Liebste!

      Seit drei Wochen schon will ich Dir schreiben. Vor allem muss ich Dir von Gustav Mahler erzählen. Denk Dir, er selbst hat mich eines Tages angerufen, um mir Eure Grüße zu bestellen. Er hat sogar zugesagt, einen Abend bei uns zu verbringen. Den dritten November war es so weit. Es war keine leichte Frage, wen man zu diesem scheuen, verschlossenen, hypersensiblen Menschen einladen sollte. Längst war der Ruf von ungemütlichen Vorfällen zu mir gedrungen. So traf ich meine Wahl: Hermann Bahr, Max Burckhard und Gustav Klimt.

      Keine Frauen, nur ein junges Mädchen, das einzuladen Emil sich in den Kopf gesetzt hatte: Alma Schindler, die Tochter des großen Malers Emil Schindler. Er ist vor Jahren gestorben, jetzt ist sie die Stieftochter des Malers Karl Moll5, des frevelhaft geschickten Impresarios der Secession.

      Natürlich war das Menü auf Mahler eingestellt, er verträgt nur leichte Kost. Punkt acht Uhr kam er. Viel gemütlicher, als wir dachten. Angeregtes Tischgespräch über die Wiener Art, Kunst zu sabotieren. Mahler erzählte, dass ein Erzherzog ihm geschrieben und dringend verlangt habe, er solle eine absolut unbegabte, sehr hübsche Sängerin engagieren. Der Oberhofmeister fragt verlegen, ob er dem Erzherzog endlich die Antwort geben dürfe. »Antworten Sie ihm, dass ich den Brief in den Papierkorb geworfen habe«, sagt Mahler.

      »Dass Sie, lieber Kollege, nicht sofort entlassen wurden, sondern der Erzherzog dies schweigend hinnahm«, sagte nun Burckhard, »zeigt, wie viel sich im letzten Jahrzehnt zugunsten von Kunst und Künstlern gewandelt hat. Heute wäre nicht mehr möglich, was noch vor meiner Direktion geschah, dass nämlich eine Erzherzogin ein Stück verbieten lässt, weil darin ein unverheiratetes Mädchen mit unehelichem Kind vorkommt. Ebenso ist es seit meinem Amtsantritt ausgeschlossen, dass der Oberhofmeister die Annahme eines Stücks mit der Begründung verbietet, die erlaubte Anzahl der Stücke, in denen ein unehelicher Sohn vorkommt, sei dieses Jahr bereits überschritten.«

      Alma hatte bisher schweigend zugehört. Nun fragte sie temperamentvoll:

      »Warum hat sich das Publikum das gefallen lassen?«

      Mahler hatte sie bisher nicht beachtet. Jetzt sah er sie aufmerksam an.

      »Eine solche Frage kann nur die Jugend stellen, die weiß noch nichts von Feigheit und Kompromissen.«

      Dann wurde das Dessert serviert und Mahler wandte sein Interesse den Äpfeln zu. Zum schwarzen Kaffee löste sich die Tischgemeinschaft auf. Plötzlich höre ich laute Stimmen aus dem Nebenzimmer und werfe einen Blick hinein. Zornig steht Alma da. Auch Mahler ist wütend. Hüpft hin und her, wie immer, wenn ihm seine Nerven durchgehen.

      »Sie haben nicht das Recht, ein Werk, das Ihnen eingereicht wird – noch dazu von einem echten Musiker wie Zemlinsky –, einfach ein Jahr lang liegen zu lassen! Sie können ›Nein‹ sagen, aber antworten hätten Sie müssen!«

      »Das Ballett ist miserabel«, knurrt Mahler. »Ich verstehe nicht … Sie studieren doch Musik – wie können Sie für so einen Schmarren eintreten?«

      »Erstens ist es kein Schmarren. Wahrscheinlich haben Sie sich nicht die Zeit genommen, das Werk durchzusehen, und zweitens kann man auch höflich sein, wenn es sich um schlechte Musik handelt.«

      Mahler nagt heftig an seiner Lippe. Plötzlich streckt er seine Hand aus:

      »Machen wir Frieden. Ich verspreche Ihnen natürlich nicht, das Ballett anzunehmen. Weil Sie aber so tapfer für Ihren Lehrer einstehen, verspreche ich Ihnen, Zemlinsky morgen zu mir zu bitten.«

      Alma war sichtlich über ihren Temperamentsausbruch erschrocken. Wie hatte sie ihn ihrem Idol gegenüber nur wagen können? Sie flüchtete zu Klimt und Burckhard. Klimt hat für sie geschwärmt, als sie sechzehn Jahre alt gewesen ist. Burckhard ist eben jetzt in sie verliebt. Sie aber nimmt das recht gleichgültig hin.

      »Es ist das erste Mal«, sagte Mahler später, »dass ich mich in einer Gesellschaft wohl fühle. Ich muss aber fort, denn ich habe morgen Kostümprobe. Übermorgen ist die Generalprobe von ›Hoffmanns Erzählungen‹. Diese Oper bedeutet mir viel. Offenbach hat sich sein Leben lang danach gesehnt, der Operette zu entwachsen, eine Oper zu komponieren. Aber erst als alter Mann, an der Schwelle des Todes, hat er es vollbracht. Ein Schicksal, das jeden von uns erwartet. Erst sterbend vollenden wir uns.«

      Dann, als er sich verabschiedete: »Darf ich Sie zur Generalprobe einladen? Übermorgen Punkt zehn Uhr. Wenn es Fräulein Schindler interessiert, so bitte ich auch sie, mir das Vergnügen zu machen.«

      Fort war er. Mit seinen hastig zuckenden Schritten verschwand er wie ein Irrlicht. Wir blieben noch beisammen.

      »Alma, du kannst dich nicht beklagen«, sagte ich scherzend, »ich habe dir die Vergangenheit eingeladen«, und ich zeigte auf Klimt, »die Gegenwart«, auf Burckhard, »und vielleicht die Zukunft.«

      Drei Wochen sind