DIE LETZTE FIREWALL. William Hertling. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: William Hertling
Издательство: Bookwire
Серия: Singularity
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958353121
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in dem Anzug, den sie für ihn gekauft hatte, an jenem Tag, an dem er die Wahl für den Sitz im Kongress gewonnen hatte. Sie hatte ihn in seinem Büro besucht; sie wollten zusammen zu Mittag essen. Sein Kollege, der Kongressabgeordnete Lonnie Watson, kam herein. Die Männer sprachen miteinander und ignorierten sie. Sie konnte nicht verstehen, worum es ging.

      Dann die ersten Schritte ihres Sohnes im Museum, ein Ausdruck reiner Freude auf seinem Gesicht, während er vor Begeisterung quietschte. Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber die Erinnerung schwand, bevor sie ihn berühren konnte.

      Sie wurde panisch, als sie erkannte, dass sie alle diese Menschen nie wieder sehen würde. Sie würde nicht die Chance haben, ihren Sohn aufwachsen zu sehen. Sie umklammerte ihre Knie, während sie auf dem Küchenboden saß.

      Noch eine Erinnerung: Sie kam mit ihrem Sohn von einem Baseballspiel nach Hause. Lonnie Watson war wieder bei ihnen, sprach im Büro mit ihrem Mann. Ihre Aufmerksamkeit aber galt dem Ausdruck auf dem Gesicht ihres Sohnes. Sie sah seine Enttäuschung, weil er von seinem Vater nicht beachtet wurde. Sie fühlte, wie die Erinnerung intensiver wurde: Das Gespräch zwischen den Kongressabgeordneten wurde verlangsamt abgespielt und dann wiederholt, ihre Lippen bewegten sich in Zeitlupe hinter der Glastür des Büros. Sie arbeiteten an Gesetzen zur Regulierung von künstlicher Intelligenz.

      Ihre letzte Erinnerung handelte von ihrem Sohn. Das Gefühl seines Haares unter ihren Fingerspitzen, als sie sich, gerade erst vor ein paar Stunden, von ihm verabschiedet hatte. Ein brennender Schmerz bohrte sich durch ihren Kopf. Sie schrie ein letztes Mal auf, bevor sie still wurde. Ihr Mund stand offen und fror ein. Sie versuchte aufzustehen, kippte aber zur Seite und war schon tot, noch bevor sie auf den Boden aufschlug.

      

      Kapitel 1

      Catherine streifte sich ihr Shirt über und blickte zum Bett zurück, in dem Nick noch schlief. Sie sah zu, wie er atmete, und blickte stirnrunzelnd auf seinen Dreitagebart. Niedlich, aber nicht wirklich smart. Sie band ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, während sie die Spiegelschrift ihres T-Shirt-Aufdruckes las: Ein Leben ohne Geometrie ist sinnlos. Lächelnd trat sie auf den Korridor.

      Leise tappte sie die Treppe hinunter. Da sie immer als Erste auf war, hatte sie nicht lange gebraucht, um zu bemerken, dass ihre Mitbewohner keine Frühaufsteher mochten. Im Erdgeschoss schlief ihr Katze-Hund-Hybrid Einstein, ein Welpum, auf der nach Osten liegenden Fensterbank, um die ersten Strahlen der Morgensonne einzufangen. Catherine krabbelte ihn hinter den Ohren, bis er schnurrte. Der feline Anteil bei Einsteins Genen überwog, auf den ersten Blick sah man nur eine große Katze. Aber wenn man Einstein mit in den Park nahm, dann holte er Stöckchen wie ein richtiger Hund.

      Catherine schlüpfte durch die Schiebetür der Küche in den Innenhof, wo Pflanzen wild um die Terrasse aus recycelten Ofenziegeln wucherten. Sie wandte sich nach Osten dem Haus zu und begann das Ba Duan Jin oder ›Die Acht Brokate‹ aus dem Qigong. Sie bewegte sich langsam, brachte ihren Körper mit der uralten chinesischen Form des Chi-Flusses oder der Lebenskraft in Einklang. Ihre Augen blickten ins Leere, während sie die vorgegebenen Schrittfolgen ausführte, wobei ihre Arme kunstvolle Bögen in die Luft zeichneten. Wie aus weiter Ferne spürte sie den Wind, der durch die Blätter der kleinen Bäume strich, hörte nur das Windspiel eines Nachbarn und ihren eigenen Atem. Sie wiederholte die Übung zweimal, pausierte dann für ein paar meditative Atemübungen und begann mit der ›Jadeprinzessin‹. Als sie die Übung beendete, verbeugte sie sich einmal. Die friedvollen Bewegungen des Qigong wurden durch die kurzen, harten Schläge des Naihanchi ersetzt, ihrer ersten Karate-Kata. Vierzig Minuten später beendete sie ihr Training mit Kusanku und verbeugte sich wieder. Ihr Körper sank dankbar in eine sitzende Meditationshaltung, die Beine überkreuzt, die Hände auf den Knien liegend. Ein dünner Schweißfilm bedeckte ihre Haut und ihre Muskeln waren warm und locker. Die Geräusche der Kaffeemaschine, Gelächter und das Spülen einer Toilette waren aus dem Haus zu hören. Sie ließ die Gedanken fließen. Leere deinen Geist. Leere deinen Geist.

      Neunzig Minuten später öffnete sie die Augen und betrachtete die Welt von Neuem. Sie beobachtete das Spiel des Sonnenlichts auf den Blättern und streckte Arme und Beine weit von sich.

      Manche Menschen sagten, dass Meditation ihnen schwerfiele, dass ihr Verstand immer auf Wanderschaft sei und in seinen Gedanken gefangen. Das konnte sie nicht verstehen. Wenn sie eigentlich meditieren wollten, warum dachten sie dann noch über andere Dinge nach?

      Sie ging barfuß die Treppe zum Haus hinauf und schob die Tür auf. Nach der kühlen Morgenluft erschien ihr das Innere des Hauses stickig. Ihre Mitbewohner waren jetzt in der Küche.

      »Hallo, Karate Kid«, sagte Tom in liebevollem Ton. Er winkte mit einer Kaffeetasse in ihre Richtung, sein abgelenkter Blick sagte ihr, dass er tief im Cyberspace versunken war.

      Catherine konzentrierte sich und schaltete ihr Neuralimplantat ein. Einen Augenblick später flackerte ihre visuelle Wahrnehmung, als ihr Implantat online ging. Nachdem es sich mit dem Netz synchronisiert hatte, zeigte es über Toms Kopf seine Statusblase: ›beschäftigt‹.

      »Wie war letzte Nacht?«, fragte Maggie, die selbst ernannte Mutter ihrer kleinen Wohngemeinschaft. Jeder, der bei gesundem Verstand bleiben wollte, musste sich neu erfinden, weil die künstlichen Intelligenzen, die KIs, alle Jobs übernommen hatten.

      »Ich habe einen Typ kennengelernt«, sagte Catherine. Sie lächelte. »Nick. Er ist oben.« Sie hielt eine Hand über ihre Tasse, um Maggie davon abzuhalten, ihr Kaffee einzuschenken. »Nein, Kaffee und Meditieren passt nicht zusammen. Rieche ich da Eier?«

      »Die Quiche ist in fünf Minuten fertig«, sagte Maggie und versuchte nicht länger, ihr Kaffee aufzunötigen.

      »Lecker.« Es war angenehm ruhig in der Küche. Aber plötzlich hatte Catherine einen hässlichen Verdacht. »Wo ist Sarah?«, fragte sie.

      »Ich glaube, ich habe sie oben gehört.« Maggie drehte sich weg und hatte es plötzlich sehr eilig, nach dem Ofen zu sehen.

      Catherine sah zur Zimmerdecke, drehte sich auf dem Absatz um und schlich durch das Wohnzimmer. Sie lief die Treppe hinauf. Der alte Teppichboden dämpfte das Geräusch ihrer Schritte.

      Vom Treppenabsatz aus konnte sie Nick und Sarah im Korridor zwischen den Schlafräumen sehen. Sarah saß in BH und Unterwäsche gegen die Wand gelehnt. Nick stand kaum eine Handbreit über sie gebeugt, beide Hände an die Wand über ihrem Kopf gestützt. Wegen des Ausdrucks auf ihren Gesichtern hatte Cat keinerlei Zweifel: Die beiden waren verlinkt. Im Netz konnte sie eine Verbindung mit hoher Bandbreite zwischen ihnen sehen: einen dicken, blauen Strom, der ihre Köpfe miteinander verband und über den sie ihre Sinneseindrücke austauschten.

      Catherines Fingernägel gruben sich in ihre Hände, als sie sie zu Fäusten ballte. Sie drückte fester, spürte aber kaum den Schmerz. Sie wartete einen Augenblick, doch Nick und Sarah waren zu tief im virtuellen Sex versunken, um ihre Anwesenheit überhaupt zu bemerken.

      Sie konzentrierte sich auf ihr Implantat, tastete sich durch das Netz, um Sarahs und Nicks Verbindung zu finden, und trennte sie. Der blaue Datenstrom zwischen den beiden verschwand. Nick flog quer über den Korridor, schrie auf und hielt sich den Kopf. Sarah schaukelte vor und zurück und presste zwei Finger gegen ihre Schläfen, während sie die Wand anstarrte. »Oh Mann, Cat, so was kannst du doch nicht machen.«

      »Dann schlaf du nicht mit Kerlen, die ich nach Hause bringe.« Cats Stimme brach und sie kämpfte gegen die Tränen an.

      Sarah stand auf und starrte sie an. »Du hast doch selbst erzählt, wie dumm er sich in der letzten Nacht in der Bar angestellt hat. Ich verstehe nicht, warum er dich überhaupt interessiert.«

      »Weil …«

      »Bleib raus aus meinem Kopf«, sagte Sarah wütend, während sie zum Badezimmer ging. »Spiel nicht mit meinem Implantat herum. Nur weil du es kannst, hast du noch lange nicht das Recht dazu.«

      Nick sah Sarah nach, wie sie den Korridor hinunterging, und wandte sich Catherine zu.