Silvania riss die lindgrünen Augen auf. „Das wäre eine Katastrophe! Dann müsste ich ihm erklären, dass du ein Halbvampir bist, dass ich ein Halbvampir bin und Papa ein echter Vampir.“
„Und dann?“
„Dann würde er schreiend davonlaufen, die Polizei verständigen oder die Irrenanstalt. Auf jeden Fall würde er mir nie wieder Nachhilfe geben.“ Die roten Ringe um Silvanias Augen waren mittlerweile so groß wie Erdbeerdonuts.
„Gumox“, meinte Daka. „Bestimmt fände er es total cool, einem Halbvampir Nachhilfe zu geben.“
Silvania sah ihre Schwester zweifelnd an.
„Weißt du was? Ich helfe dir“, verkündete Daka.
Silvania zog die Augenbrauen zusammen. „Und wie?“
Daka zuckte mit einer Schulter und grinste. „Ich sag es ihm einfach.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um.
„NEIN!“, schrie Silvania.
„FUMPFS!“, schrie Daka.
„AUTSCH!“, schrie Jacob.
Daka war Jacob mit der ganzen Wucht ihrer Gummistiefel auf den Fuß getreten. Jacob hatte mit einer Sahne-Kirsch-Waffel und einem Becher Limo direkt hinter Daka gestanden. Die Sahne der Sahne-Kirsch-Waffel klebte an Jacobs Sweatshirt. Die Hälfte der Limo hatte sein rot-blau gestreifter Schal aufgesaugt.
„Schlotz zoppo!“, rief Daka. „Es tut mir leid.“ Sie fuhr sich durch die Haare und fuchtelte mit den Armen. Dann fiel ihr zum Glück ein, was zu tun war. Daka bückte sich und spuckte dreimal kräftig auf Jacobs Fuß.
Jacob starrte Daka an. Dann starrte er auf seinen Fuß. Auf der Spitze seines Turnschuhs hatte sich eine Speichelpfütze gebildet. Langsam bahnte sie sich ihren Weg und floss seitlich vom Schuh herunter.
Silvania, Helene und Ludo sahen Jacob betreten an.
„Geht es schon besser?“, fragte Daka leise.
Jacob schüttelte langsam den Kopf. Er drückte Daka wortlos die Waffel und den Limobecher in die Hand. Dann zog er seine Uhr aus der Hosentasche, warf einen Blick darauf und sagte: „Die Nachhilfestunde ist vorbei. Ich geh dann mal lieber.“
„Oh“, machte Silvania.
Jacob sah sie einen Moment an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann wandte er sich zum Gehen.
„Warte! Ich … ich … ich“, begann Silvania. „Ich wasche den Schal.“ Bevor Jacob sich versehen konnte, hatte Silvania ihm den Schal abgenommen.
Er stutzte. „Okay“, sagte er dann. Er warf einen kurzen Blick auf Helene, Ludo und Daka, sagte „Viel Spaß noch“, drehte sich um und verschwand im Jahrmarktsgewimmel.
Silvania seufzte.
Waffelwerner hatte den Kopf auf die Hände gestützt. Er blickte aus seiner Waffelbude und seufzte ebenfalls. Die gute Sahne.
„War das jetzt meine Schuld?“, fragte Daka mit gesenktem Kopf.
Helene legte Daka die Hand auf die Schulter. „So ein Zusammenstoß kann jedem mal passieren.“
„Aber nicht jeder spuckt dem anderen danach auf den Schuh“, meinte Silvania.
„Stimmt“, sagte Ludo.
„Das ist doch höflich“, verteidigte sich Daka.
„In Transsilvanien“, erwiderte Silvania. „Aber nicht hier.“ Wenn sich in Transsilvanien jemand verletzte, sich wehtat oder sonstige Schmerzen hatte, spuckte man ihm dreimal auf die betreffende Stelle. Je mehr Speichel, desto besser.
„Na und. Ich wette, es hilft trotzdem“, sagte Daka.
„Gumox“, meinte Silvania. „Weißt du, was helfen würde? Wenn du dich normal verhalten würdest, statt meinen Nachhilfelehrer zu verschrecken.“
„Was ist denn normal? In Bistrien war ich total normal und ich habe mich seitdem nicht verändert.“ Daka verschränkte die Arme.
„Genau das ist das Problem. Aber deine Umgebung hat sich verändert“, erklärte Silvania.
„Na dann ist die Sache ja klar: Ich bin normal, nur meine Umgebung nicht. Es ist also nicht meine Schuld. Du musst dich bei der Umgebung beschweren.“
„Nein. Wenn die Umgebung sich verändert, muss man sich auch verändern. Das nennt man Anpassung“, stellte Silvania klar.
„Ich will mich aber nicht anpassen“, sagte Daka.
„Dann wirst du über längere Zeit ausgerottet werden. Das ist wie bei der Evolution. Die Lebewesen, die sich am besten an die sich ändernden Umweltbedingungen anpassen konnten, leben noch. Alle anderen sind hinüber.“
„Totaler Gumox!“ Daka verschränkte die Arme. „Schon mal was von Artenreichtum gehört? Außerdem könnten die Menschen ja auch etwas von uns lernen.“
„Ja!“, rief Helene. „Fliegen!“
„Oder Flopsen“, meinte Ludo.
Daka nickte. „Genau. Die Menschen machen das ja nur nicht, weil sie es nicht können.“
„Aber deswegen kannst du dich trotzdem nicht benehmen, als wärest du in Transsilvanien“, erwiderte Silvania.
Daka zuckte mit den Schultern. „In Transsilvanien hat das auch keinen Menschen gestört.“
„Da wussten ja auch alle, dass wir Halbvampire sind. In Deutschland sind wir doch sozusagen … inkognito.“
„In Kack was?“ Daka sah ihre Schwester mit großen Augen an.
„Inkognito. Heimlich“, flüsterte Silvania. „Niemand darf wissen, dass wir Halbvampire sind.“
„Und wieso?“
Silvania holte tief Luft. Ihre Schwester wusste genau, wieso. „Weil wir sonst in die Irrenanstalt gesteckt werden.“
„Kann man da flopsen und fliegen?“, fragte Daka.
„NEIN!“
„Ruhig Blut, Schwester!“, sagte Daka.
Silvania hatte eine ungesunde rote Gesichtsfarbe. Sie schnaufte aus den Nasenlöchern wie ein Stier.
Ludo und Helene hatten während des Wortwechsels zwischen den Zwillingen hin und her gesehen. Ihnen wurde langsam schwindlig. Vom Zusehen und vom Zuhören.
Silvania atmete tief durch. „Mit MEINEM Blut ist alles in Ordnung. ICH habe mich unter Kontrolle. Im Gegensatz zu DIR!“
Daka reichte es langsam. Eigentlich mochte sie ihre Schwester. Manchmal sogar sehr. Aber manchmal auch weniger. Daka holte gerade für eine lautstarke Antwort Luft, als Helene ihr zuvorkam.
„Guckt mal da drüben: Orakulum Spektakulum. Weissagungen und Wünsche“, rief sie und schob sich zwischen die Schwestern. Sie hakte sich mit dem linken Arm bei Silvania ein und mit dem rechten bei Daka. „Das ist genau das Richtige für euch. Da gehen wir jetzt hin. Ihr könnt euch weissagen lassen, was die Evolution so bringt.“
Während Helene bereits mit den überrumpelten Zwillingen im Schlepptau auf das Orakulum Spektakulum zulief, zögerte Ludo. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl. Er konnte das Gefühl förmlich schmecken. Es schmeckte wie scharfer Senf mit Himbeermarmelade.
Wunderliche Weissagung
Das Orakulum Spektakulum war eines der ältesten Attraktionen des Jahrmarktes. Von außen sah es aus wie ein orientalischer Palast. Unter drei gold glänzenden Kuppeln befand sich eine Art Vorbau aus drei sandsteinfarbenen Bögen. Der mittlere Bogen bildete den Eingang des Orakulum Spektakulum. Ein paar Schritte, nachdem der Besucher durch den Bogen getreten war, stieß er auf einen orangegelben Vorhang. In den Vorhang waren Glitzersteine eingearbeitet, die ihn wie Sonnenstrahlen leuchten ließen. Schob der Besucher den Vorhang zur Seite und trat in den anschließenden Raum, war er sofort von einem schweren,