Waffelwerner nickte. „Klarokowski.“
Jacob spürte, dass ihn Waffelwerner noch immer musterte. Langsam drehte er sich abermals um.
Waffelwerner grinste. „Biste dir sicher?“
„Was?“
„Dass de keene Waffel willst.“
Jacob nickte. „Später vielleicht.“
In dem Moment erschienen zwei Mädchen am Springbrunnen. Die eine hatte ihre pechschwarzen Haare gestylt, als wollte sie sich als Seeigel tarnen. Sie trug eine schwarze Jacke, die mit lauter kleinen silbernen Spinnen bedruckt war, einen kurzen lilafarbenen Rock, schwarze löcherige Leggins und lilafarbene Gummistiefel. Das war Dakaria Tepes.
Das andere Mädchen hatte einen rot-schwarz karierten Hut auf, unter dem wallende rotbraune Haare hervorquollen. Sie trug ein enges feuerrotes Kleid mit einem breiten dunkelroten Gürtel und einer schwarzen Samtstola. Die schwarzen Schuhe gingen ihr bis zu den Knöcheln, hatten rote Knöpfe an der Seite und bogen sich an der Schuhspitze wie zwei Schlittenkufen nach oben. Das war Silvania Tepes.
„Wartest de auf die da?“ Waffelwerner deutete auf die beiden Mädchen am Springbrunnen.
Jacob nickte mit offenem Mund, wobei er die Zwillinge nicht aus den Augen ließ. „Also, eigentlich nur auf die eine. Die im roten Kleid.“
Waffelwerner zog die Nase hoch und nickte anerkennend.
Eine Sekunde später liefen ein Junge und ein Mädchen auf die Zwillinge zu. Der Junge hatte halblange dunkle Haare und war kaum größer als die Mädchen. Das andere Mädchen hatte glänzend blonde Haare, war schlank und hatte strahlend blaue Augen. Das konnte man bis zur Waffelbude sehen.
„Und wer sind die jetzt?“, fragte Waffelwerner.
„Keine Ahnung.“
Waffelwerner und Jacob sahen, wie das Mädchen mit den blonden Haaren ihre Hand zur Faust ballte und damit den Schwestern auf den Kopf klopfte. Der Junge tat dasselbe. Die Zwillinge klopften zurück.
„Was machen die denn?“
Jacob zuckte die Schultern. Dann kratzte er sich hinter dem Ohr. „Ich weiß es nicht.“
Waffelwerner und Jacob konnten nicht wissen, dass die vier Freunde ihren eigenen Gruß hatten. Daka und Silvania hatten die Kopfnuss aus Transsilvanien importiert. In Bistrien, ihrem Heimatort, begrüßten sich alle so. In Deutschland war die Kopfnuss als Begrüßung bis jetzt nur bei Helene und Ludo gut angekommen.
Jetzt hatte Silvania Jacob entdeckt. Sie winkte.
Jacob hob kurz die Hand und nickte. „Ich muss dann“, sagte er zu Waffelwerner.
„Allet klar. Tschüssikowski!“ Waffelwerner steckte den Löffel in die Waffelschüssel, rührte um und sah Jacob nach. „Noch eenmal jung sein …“, flüsterte er und blickte versonnen auf den Waffelteig.
Nachhilfe mit Überschlag
Frau Gesine Schlotzer verkaufte seit 22 Jahren Fahrkarten für den Star Express. Der Star Express war eine Stahlachterbahn. Herr Ottmar Schlotzer, Frau Schlotzers Onkel, hatte sie vor 28 Jahren von seinem Vater übernommen. Der Star Express hatte alles, was eine richtige Achterbahn brauchte: eine steile Bergabfahrt, ein atemberaubendes Looping, zwei große Hügel, die Kamelrücken genannt wurden, und rasante Kurven. Noch nie hatte sich ein Kunde beschwert, ihm wäre vor schauriger Freude nicht beinahe schlecht geworden. Darauf war Onkel Ottmar stolz. Und Frau Schlotzer auch. Egal, in welche Stadt sie kamen, immer war der Star Express eins der beliebtesten Fahrgeschäfte. Und immer saß Gesine Schlotzer in dem kleinen, gläsernen Fahrkartenhäuschen und verkaufte Tickets. In den ganzen 22 Jahren hatte sie kein einziges Mal gefehlt. Sie hatte Schnupfen gehabt, da es in dem Fahrkartenhäuschen immer zog. Migräne, da es um sie herum ständig klingelte, lärmte und kreischte. Sehnenscheidenentzündung, da sie die Fahrkar- ten immer mit der linken Hand von einem großen Block abriss. Doch immer war sie auf ihrem Posten geblieben. Sie mochte ihren Job. Sie verkaufte den Menschen für ein paar Euro ein paar Minuten voller Aufregung, Bauchkribbeln und Taumel. Und zwischendurch konnte sie noch Kreuzworträtsel machen. Gesine Schlotzer konnte sich keine bessere Arbeit vorstellen.
„Ein Mal bitte“, sagte ein hochgewachsener Junge mit zerzausten rotblonden Haaren. Er legte einen zerknitterten Geldschein auf den Tresen des Fahrkartenhäuschens.
Gesine Schlotzer riss eine Fahrkarte vom Block, reichte sie dem Jungen, gab ihm das Wechselgeld und lächelte. „Gute Fahrt.“
Der Junge lächelte kurz zurück. Dann steckte er die Fahrkarte und das Wechselgeld in die Hosentasche und fuhr sich durch die Haare. Gesine Schlotzer seufzte. Der Junge erinnerte sie an ihren Neffen. Ein schöner, schüchterner Junge. Und hochbegabt. Leider nur sehr weit weg.
Die nächste Kundin war ein Mädchen mit einem rot-schwarz karierten Hut. Vermutlich eine aus- ländische Besucherin, denn sie sagte „One ticket, please.“
Es folgten ein blondes Mädchen, ein Junge mit halblangen Haaren und ein Mädchen mit einer sehr beeindruckenden Frisur. Man konnte meinen, sie wäre schon drei Runden mit der Achterbahn gefahren.
„Gute Fahrt!“, wünschte Gesine Schlotzer allen.
„Datiboi!“, erwiderte das Mädchen mit der beeindruckenden Frisur.
Gesine Schlotzer sah der Gruppe nach. Sie hatte in ihren 22 Berufsjahren schon an die Millionen Fahrkarten verkauft. Sie hatte an die Millionen Menschen gesehen. Hatte ihnen eine Fahrkarte abgerissen, das Wechselgeld gegeben und ihnen eine gute Fahrt gewünscht. Diese Achterbahnpassagiere waren anders als andere Passagiere. Gesine Schlotzer wusste nicht, warum. Sie wusste es einfach. Sie starrte einen Moment auf einen Ketchupfleck an der Fensterscheibe ihres Fahrkartenhäuschens. Dann zuckte sie mit den Schultern. Sie griff zu ihrem Nachschlagewerk, das sie für Kreuzworträtsel immer parat hatte, um „datiboi“ nachzuschlagen.
Silvania, Jacob, Daka, Helene und Ludo nahmen im Star Express Platz. Silvania saß neben Jacob. Ellbogen an Ellbogen. Obwohl die Achterbahn noch stand, war Silvania schon etwas schwindelig.
„Weißt du, was ,Achterbahn‘ auf Englisch heißt?“, fragte Jacob.
Silvania hatte das Wort schon einmal gehört. „Cooler toaster?“
„Fast. Roller coaster“, erwiderte Jacob.
„Und was heißt ,Schleuderbombe‘ auf Englisch?“, fragte Daka, die direkt hinter Jacob saß.
„Schleuder- was?“ Jacob hatte sich halb umgedreht und sah Daka fragend an.
Silvania warf ihrer Schwester einen strengen Blick zu. „Es – gibt – hier – keine – Schleuderbomben.“ Und kein Kreuzknoblauchkabinett, kein Mäuseschwanzschießen, keinen Knochenbrecher und keinen Blutpolypen. Diese Fahrgeschäfte kannten die Zwillinge aus Bistrien. Daka konnte nicht fassen, dass es sie auf einem deutschen Jahrmarkt nicht gab.
„Fumpfs! Noch nicht einmal Schleuderbomben“, stöhnte sie.
„Wir können ja danach Wilde Maus fahren“, schlug Silvania vor.
„Wilde Maus! Nici doi viati!“ Daka schüttelte den Kopf. Sie würde nicht mit einem Fahrgeschäft fahren, das wie eine Mahlzeit klang. Menschen fuhren ja auch nicht mit der Verrückten Bockwurst.
„Nietzsche doofer Vati?“ Jacob sah Daka fragend an. „Was redest du denn da?“
Daka redete Vampwanisch. Eine der ältesten, kompliziertesten und schönsten Sprachen der Welt. Selbst ein mittelalter Vampir wie Mihai Tepes, der Vater der Zwillinge, der 2676 Jahre alt war, beherrschte nicht alle ausgeklügelten Redewendungen und kannte nicht alle grammatikalischen Feinheiten des Vampwanischen. Er achtete sehr darauf, dass seine Töchter ihre Vatersprache in