»Sie schmeichelt mir«, dachte sie, doch dies war nicht der Fall. Die großen, blauen, strahlenden Augen der Fürstin waren wirklich so schön, daß sie sehr oft ihrem unschönen Gesicht eine wirkliche verführerische Schönheit verliehen. Die Fürstin aber sah niemals den richtigen Ausdruck ihrer Augen, den sie in solchen Augenblicken annahmen, wo sie nicht an sich selbst dachte. Wie bei allen Menschen nahm ihr Gesicht einen gespannten, unnatürlichen Ausdruck an, sobald sie in den Spiegel sah. Sie las weiter.
»Ganz Moskau spricht nur von Krieg. Einer meiner beiden Brüder ist schon im Ausland, der andere bei der Garde, welche an die Grenze abmarschiert. Unser teurer Kaiser verläßt Petersburg und ist entschlossen, wie man glaubt, seine kostbare Person den Zufällen des Krieges auszusetzen, um das korsikanische Ungeheuer auszurotten. Dieser Krieg beraubt mich außer meiner Brüder auch einer meinem Herzen nahen Bekanntschaft. Ich spreche von dem jungen Nikolai Rostow, welcher mit Enthusiasmus die Universität verließ, um in die Armee einzutreten. Ich gestehe Ihnen, teure Marie, daß das mir großen Kummer bereitete. Er ist so edel, so aufrichtig, so rein und voll Poesie, daß meine Beziehungen zu ihm, so vorübergehend sie auch waren, meinem Herzen, das schon so viel gelitten hat, süße Wonne bereiteten. Ich werde Ihnen später unseren Abschied und alles, was dabei gesprochen wurde, erzählen. Jetzt ist noch alles zu frisch. Ich weiß sehr wohl, daß Graf Nikolai zu jung ist, um etwas anderes als ein Freund für mich zu sein, aber die süße Poesie und reine Freundschaft war meinem Herzen Bedürfnis. Doch genug davon.
Die größte Neuigkeit, welche ganz Moskau erfüllt, ist der Tod des alten Grafen Besuchow und seine Erbschaft. Stellen Sie sich vor, die drei Fürstinnen erhielten nur eine Kleinigkeit. Fürst Wassil gar nichts, Peter aber ist Haupterbe und außerdem gesetzlich anerkannter Sohn, also Graf Besuchow und Besitzer des ungeheuersten Vermögens in ganz Rußland. Man sagt, Fürst Wassil habe eine sehr häßliche Rolle in dieser Angelegenheit gespielt und er sei in großer Verwirrung nach Petersburg abgereist. Ich gestehe Ihnen, ich verstehe nichts von diesen Testamentsgeschichten. Aber es ist sehr belustigend, seitdem dieser Monsieur Pierre der reiche Graf Besuchow geworden ist, den Wechsel in dem Ton zu beobachten, mit dem man jetzt von ihm spricht, namentlich solche Leute, welche Töchter zu verheiraten haben, sowie die heiratsfähigen Töchter selbst. Da nun seit zwei Jahren schon alle sich damit amüsieren, Freier für mich auszusuchen, die ich meistens gar nicht kenne, so hat die Heiratschronik mich zur Gräfin Besuchow gemacht, aber Sie begreifen, daß das durchaus nicht mein Wunsch ist. Doch da wir vom Heiraten sprechen, muß ich Ihnen mitteilen, daß vor kurzem die Allerweltstante, Fürstin Drubezkoi, mir unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses einen Heiratsplan, der Sie betrifft, mitgeteilt hat. Es handelt sich um nichts weniger als den Sohn des Fürsten Wassil, Anatol, welchen man versorgen will, indem man ihn an ein reiches und vornehmes Mädchen verheiratet, und die Wahl der Eltern ist auf Sie gefallen. Ich weiß nicht, wie Sie die Sache ansehen, aber ich hielt es für meine Pflicht, Sie zu benachrichtigen. Man sagt, er sei sehr hübsch und ein großer Galgenstrick, das ist alles, was ich über ihn erfahren konnte. Doch genug. Meine Empfehlung an Ihr Väterchen und einen Gruß für Mademoiselle Bourienne. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.
Julie.
P. S. Geben Sie mir Nachricht von Ihrem Bruder und von seiner entzückenden jungen Frau.«
Die junge Fürstin versank in Nachdenken, wobei ihr Gesicht sich gänzlich veränderte. Ihre Augen leuchteten. Plötzlich erhob sie sich, trat an den Tisch und nahm Papier heraus. Rasch glitt ihre Hand darüber hin. Sie schrieb als Antwort:
»Liebe unschätzbare Freundin! Ihr Brief vom 13. dieses Monats hat mir große Freude gemacht. Sie lieben mich noch immer, meine teuerste Julie, Sie klagen über unsere Trennung. Aber was soll ich sagen – ich, welche aller, aller Lieben beraubt ist, die mir teuer sind? Ach, ohne die Tröstungen der Religion wäre das Leben sehr schwer! Glauben Sie nicht, daß ich mit strenger Miene vernahm, was Sie von Ihrer Neigung zu dem jungen Mann sagten. Ich bin nur gegen mich selbst streng, ich begreife diese Gefühle bei anderen, und wenn ich sie auch nicht kenne, da ich sie nie empfunden habe, so verurteile ich sie doch nicht. Mir scheint nur, daß die christliche Liebe zum Nächsten höher steht.
Die Nachricht von dem Tode des Grafen Besuchow haben wir schon früher erfahren, und mein Vater war sehr bewegt dadurch. Er sagt, das sei der vorletzte Vertreter der großen Zeit Katharinas gewesen und jetzt sei die Reihe an ihm.
Ihre Meinung über Peter, den ich schon als Kind kannte, teile ich nicht. Es schien mir immer, daß er ein vortreffliches Herz habe, und das ist diejenige Eigenschaft, die ich am meisten an den Menschen schätze. Was seine Erbschaft betrifft und die Rolle, welche Fürst Wassil dabei gespielt hat, so bedaure ich beide, den Fürsten Wassil und noch mehr Peter. Wenn man mich fragen würde, was ich am meisten wünsche auf der Welt, so würde ich sagen, ich wünsche die Ärmste der Armen zu sein. Mein Vater hat mir nichts von einem Bräutigam gesagt, er meinte nur, er habe einen Brief erhalten und erwarte den Besuch des Fürsten Wassil. In bezug auf den mich betreffenden Heiratsplan kann ich Ihnen nur sagen, teuerste Freundin, daß die Ehe nach meiner Ansicht eine göttliche Einrichtung ist, der man sich unterwerfen muß. So schwer es mir auch wäre – wenn es dem Allmächtigen gefallen sollte, mir die Pflichten der Gattin und Mutter aufzuerlegen, so würde ich mich doch bemühen, sie so treu, als ich kann, zu erfüllen, ohne mich um die Erforschung meiner Gefühle in bezug auf den, den er mir gibt, zu bemühen.
Von meinem Bruder habe ich einen Brief erhalten, der mir seine Ankunft mit seiner Frau ankündigt. Diese Freude wird von kurzer Dauer sein, da er uns verläßt, um an diesem Kriege teilzunehmen, in den wir hineingezogen werden, Gott weiß wie und warum. Selbst bei uns in unserer Einsamkeit macht sich der Krieg bemerkbar. Vorgestern abend habe ich auf meinem gewöhnlichen Spaziergange eine herzzerreißende Szene erlebt. Es war eine Abteilung Rekruten, die bei uns ausgehoben worden waren und zur Armee abgesandt werden sollten. Man mußte sehen, in welchem Zustand sich die Mütter, Frauen und Kinder derjenigen befanden, welche abgingen. Man mußte ihr Weinen und Jammern hören! Man glaubt, die Menschen haben die Gesetze ihres göttlichen Erlösers vergessen. Nun leben Sie wohl, liebste, teuerste Freundin, unser göttlicher Erlöser und seine allerheiligste Mutter nehme Sie unter ihren heiligen, mächtigen Schutz!
Marie.«
»Ah, Sie schrieben einen Brief. Ich habe soeben auch einen abgesandt an meine arme Mutter«, sagte Mademoiselle Bourienne mit angenehmer Stimme, indem sie das »r« schnurren ließ und in die kummervolle, düstere Atmosphäre der Fürstin Marie eine ganz andere, heitere, hellere Welt trug. »Fürstin, ich muß Ihnen sagen«, fügte sie leise hinzu, »daß der Fürst Michail Iwanowitsch ausgescholten hat. Er ist bei sehr schlimmer Laune, das mußte ich Ihnen mitteilen.«
»Ach, liebe Freundin«, erwiderte Fürstin Marie, »ich habe Sie gebeten, niemals davon zu sprechen, in welcher Stimmung sich mein Vater befindet. Ich erlaube mir nicht, darüber zu urteilen und wünsche auch nicht, daß andere darüber urteilen.«
Die Fürstin blickte nach der Uhr und als sie bemerkte, daß es schon seit fünf Minuten Zeit sei, sich ans Clavichord zu begeben, ging sie mit erschrecktem Gesicht in den Salon. Zufolge der eingeführten Tagesordnung ruhte der Fürst zwischen zwölf und zwei Uhr, während die Fürstin auf dem Clavichord spielte.
23
Ein grauköpfiger Kammerdiener saß im Halbschlummer in dem großen Kabinett und lauschte auf das Schnarchen des Fürsten. Von ferne hörte man eine zwanzigmal wiederholte schwierige Stelle aus einer Sonate von Dussek.
In diesem Augenblick fuhr ein Wagen vor dem Hause vor. Fürst Andree stieg aus und hob seine kleine Frau heraus. Der grauköpfige Tichon kam aus dem Vorsaal heraus, meldete flüsternd, der Fürst sei eingeschlafen und öffnete die Tür. Er wußte, daß auch die Ankunft des Sohnes die Tagesordnung nicht stören durfte. Auch Fürst Andree schien das zu wissen. Er blickte nach der Uhr und überzeugte sich, daß die Lebensgewohnheiten des Vaters sich nicht geändert hatten.
»In