»Ach, mein Freund«, sagte er, indem er Peter am Ellbogen ergriff, mit einer Stimme voll Aufrichtigkeit und Schwäche, wie sie Peter niemals an ihm bemerkt hatte, »wieviel Sünde und Trug nehmen wir auf uns, und wozu? Ich bin ein Sechziger, mein Freund! … Mit dem Tod ist alles aus, alles! Der Tod ist entsetzlich!« – Er schluchzte.
Zuletzt kam die Fürstin Drubezkoi heraus und näherte sich Peter mit leisen, langsamen Schritten.
»Peter!« sagte sie.
Er blickte sie fragend an. Sie küßte ihn auf die Stirn und schwieg.
»Er ist nicht mehr!«
Peter blickte sie über die Brille an.
»Kommen Sie, ich werde Sie begleiten! Suchen Sie zu weinen! Nichts erleichtert so das Herz als Tränen!«
Sie führte ihn in den dunklen Saal, und Peter war erfreut, daß kein Neugieriger dort sein Gesicht sah. Die Fürstin entfernte sich auf kurze Zeit, und als sie zurückkehrte, fand sie ihn fest eingeschlafen.
Am andern Morgen sagte die Fürstin zu Peter: »Ja, mein Freund, das ist ein großer Verlust für uns alle, nicht nur für Sie, aber Gott wird Ihnen beistehen. Sie sind jung und, wie ich hoffe, der Besitzer kolossaler Reichtümer. Das Testament ist noch nicht eröffnet. Ich kenne Sie genug, um überzeugt zu sein, daß das Ihnen nicht den Kopf verdrehen wird. Aber neue Verpflichtungen sind Ihnen auferlegt, Sie müssen ein Mann sein.« Peter schwieg.
»Später werde ich Ihnen vielleicht alles erzählen. Wäre ich nicht dort gewesen, so wäre Gott weiß was geschehen! Sie wissen, daß mein Onkel mir noch vorgestern versprach, Boris nicht zu vergessen, aber er hatte keine Zeit mehr, etwas für ihn zu tun. Ich hoffe, mein Freund, Sie werden den Wunsch Ihres Vaters erfüllen.«
Peter verstand nichts von allem. Schweigend und errötend blickte er die Fürstin an. Die Fürstin fuhr darauf zu Rostows und legte sich schlafen.
Am anderen Morgen erzählte sie Rostows und allen Bekannten die Vorfälle beim Tode des Grafen Besuchow. Sie sagte, der Graf sei gestorben, wie auch sie zu sterben wünsche, das letzte Zusammensein von Vater und Sohn sei so rührend gewesen, daß sie nicht ohne Tränen daran denken könne, und sie wisse nicht, wer sich in diesen schrecklichen Augenblicken besser benommen habe, der Vater, welcher alle bis zum letzten Augenblick erkannte und so rührende Worte zu seinem Sohne sprach, oder Peter, der seinen Gram zu verbergen suchte, um den sterbenden Vater nicht zu betrüben. »Es ist herzerhebend, solche Menschen zu sehen wie den alten Grafen und seinen würdigen Sohn«, sagte sie. Von dem Benehmen der Fürstinnen und des Fürsten Wassil erzählte sie auch, aber unter dem Siegel der Verschwiegenheit und nur flüsternd.
22
In Lysy Gory, dem Gut des Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonsky, wurde jeden Tag die Ankunft des jungen Fürsten mit seiner Frau erwartet. Der General Fürst Nikolai Andrejewitsch mit dem Beinamen »der preußische König«, lebte mit seiner Tochter Marie und deren Gesellschafterin, Mademoiselle Bourienne, beständig auf dem Gute, ohne es jemals zu verlassen. Nach seiner Ansicht gab es nur zwei Quellen menschlicher Laster, den Müßiggang und den Aberglauben, und nur zwei Tugenden, Tätigkeit und Verstand. Er leitete selbst die Erziehung seiner Tochter, und um in ihr die beiden hauptsächlichsten Tugenden zu entwickeln, gab er ihr Unterricht in der Algebra und Geometrie und regelte durch strenge Verfügungen ihre ganze Lebensweise. Er selbst war beständig beschäftigt. Er schrieb seine Memoiren, löste Aufgaben aus der höheren Mathematik, drechselte Tabaksdosen an der Drehbank oder arbeitete im Garten und beaufsichtigte den Bau von Gebäuden aller Art. Da die wichtigste Vorbedingung für diese Tätigkeit die Ordnung ist, so war auch seine Lebensweise mit peinlicher Genauigkeit geregelt.
Am Tage der Ankunft des jungen Paares erschien Fürstin Marie wie gewöhnlich zur Morgenlektion. Jeden Morgen erschien sie so im Vorsaal mit einem Stoßgebet, daß die Lektion gut verlaufen möge.
Der alte, gepuderte Diener, der im Vorsaal saß, erhob sich und sagte flüsternd: »Belieben Sie einzutreten!« Durch die Tür hörte man das eintönige Summen einer Drehbank. Die junge Fürstin öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Der Fürst arbeitete an der Drehbank, blickte sich um und arbeitete weiter.
Das große Kabinett war voll von Sachen, welche augenscheinlich in beständigem Gebrauch waren. Auf einem großen Tisch lagen Bücher und Pläne, hohe Glasschränke mit Büchern standen an der Wand. Neben einem großen Stehpult, auf dem ein offenes Heft lag, stand die Drehbank mit Werkzeugen und ringsumher lagen Drehspäne. Alles deutete auf beständige vielseitige Tätigkeit. In allen Bewegungen des Fürsten sah man noch die ausdauernde Kraft frischen Alters. Er nahm den Fuß von dem Trittbrett der Drehbank, wischte den Meißel ab, warf ihn in eine lederne Tasche, welche daran angebracht war, trat an den Tisch und rief die Tochter zu sich. Er reichte ihr seine noch unrasierte Wange und sagte in strengem Ton, aber mit zärtlichem Blick: »Bist du gesund? Nun, dann setze dich! Halt! Hier ist ein Brief für dich«, sagte plötzlich der Alte und warf ein von Damenhand beschriebenes Kuvert auf den Tisch.
Eifrig und errötend griff sie danach.
»Von Heloise?« sagte der Fürst mit kühlem Lächeln.
»Ja«, erwiderte die Fürstin mit schüchternem Blick.
»Nun, zwei Briefe werde ich durchlassen, aber den dritten lese ich!« sagte der Fürst mit Strenge. »Ich fürchte, da wird viel Unsinn geschrieben! Den dritten lese ich!«
»Lesen Sie auch gleich diesen da, Väterchen«, erwiderte die Fürstin, noch tiefer errötend, und reichte ihm den Brief.
»Den dritten, habe ich gesagt, den dritten.« Er schob den Brief zurück, stützte sich auf den Tisch und öffnete ein Heft mit geometrischen Figuren.
»Nun, Fräulein«, begann der Alte, indem er sich zu seiner Tochter auf das Heft herabbückte und die eine Hand auf die Lehne des Stuhles stützte, auf dem die Fürstin saß, »nun, Fräulein, diese Dreiecke sind einander ähnlich, wie du siehst, der Winkel a b c …«
Die Fürstin blickte erschreckt die glänzenden Augen des Vaters an. Augenscheinlich begriff sie aus Angst nichts von dem, was er sagte, so klar es auch war. Ob die Schuld am Lehrer lag oder an der Schülerin – aber jeden Tag wiederholte sich dieselbe Szene. Ein Nebel erschien ihr vor den Augen, sie sah nichts und hörte nichts, sie fühlte nur die Nähe des strengen Vaters und dachte nur daran, wie sie am schnellsten aus dem Kabinett kommen könnte. Der Alte geriet außer sich, rückte den Stuhl hin und her, auf dem er saß, suchte sich zu beherrschen, geriet aber fast jedesmal in Zorn, tobte und warf zuweilen das Heft an die Wand.
Als die Lektion zu Ende war, kehrte die Fürstin Marie in ihr Zimmer zurück mit kummervollem, erschrecktem Ausdruck, der ihr krankhaftes, nicht hübsches Gesicht noch weniger einnehmend machte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und öffnete den Brief. Er war von ihrer intimsten Jugendfreundin, derselben Julie Karagin, welche bei Rostows zum Namenstag erschienen war. Julie schrieb französisch:
»Liebe unschätzbare Freundin!
Wie schrecklich ist die Trennung! So sehr ich mich selbst versichere, daß die Hälfte meines Wesens und meines Glückes in Ihnen ist, daß ungeachtet der Entfernung, die uns trennt, unsere Herzen mit unlöslichen Banden vereinigt sind, empört sich doch mein Herz gegen das Schicksal, und ungeachtet der Vergnügungen und Zerstreuungen, welche mich umgeben, kann ich den geheimen Kummer nicht unterdrücken, den ich seit unserer Trennung in der Tiefe meines Herzens empfinde. Warum sind wir nicht beisammen, wie im vergangenen Sommer, in Ihrem grünen Kabinett auf dem blauen Diwan der Geständnisse? Warum kann ich nicht, wie vor drei Monaten, neue sittliche Kraft aus Ihrem milden, ruhigen, durchdringenden Blick